Der amerikanische Schriftsteller Richard Powers las als einer der ersten Menschen weltweit „Das Buch Ich“: In einer Reportage beschreibt er, wie er das eigene Genom entschlüsseln ließ – und wie es sich lebt mit diesem Wissen.
Zu Beginn überlegen wir, ob wir gerne an seiner Stelle wären. Am Ende wissen wir, wir werden an seiner Stelle sein; in wenigen Jahren bereits werden wir uns dem Menschenmöglichen kaum noch entziehen können. Als einer der neun ersten Menschen weltweit ließ der US-Schriftsteller Richard Powers im Jahr 2008 sein vollständiges Genom entschlüsseln. Tauschte „selige Unwissenheit” gegen einen USB-Stick, der ihm feierlich in einem Kästchen aus Rosenholz überreicht wurde.
Powers, der einst Physik studiert hatte und in seinen Büchern stets aktuelle Wissenschaft spiegelt, arbeitete 2008 an einem Roman über ein „Glücks-Gen” („Das größere Glück” hieß das wunderbare Werk). Er schien der Richtige für diese Reportage einer Revolution, die zunächst in der Zeitschrift „Gentlemen’s Quarterly” erschien.
Sechs Milliarden Genbausteine enthielt das Rosenholz-Kästchen: „Wäre das Genom eine Melodie, die man im flotten Allegrotempo von 120 Beats pro Minute spielte, würde der Song knapp ein Jahrhundert dauern.” Eine Drittelmillion Dollar hätte Powers für die Sequenzierung nach damaligem Stand der sich rasant schnell ändernden Technik ausgeben müssen. Stattdessen kann er sich mit einer Firma auf die „abgespeckte Variante” eines Angebotes einigen (den Preis nennt er nicht). Powers Recherchen ergeben, dass wir „vom magischen Ziel des Tausend-Dollar-Genoms nur noch wenige Jahre entfernt” sind. „Ein paar Jahre noch, dann haben die Leute vielleicht das Genom ihrer Geliebten als USB-Schlüsselanhänger bei sich”.
Die Interpretation der Daten ist das Entscheidende
Die Technik ist bereit. Der Mensch auch? Sollen wir wirklich annehmen, „dass Menschen, die jedes Jahr Hunderte von Dollar für Lotterielose ausgeben, in der Lage sein werden, die komplexen mathematischen Prognosen, die in ihrem Genom stecken, zu begreifen?“ Denn darum geht es ja: Nicht die Entschlüsselung, die Interpretation der Daten ist das Entscheidende. Jeden Tag gibt es neue Erkenntnisse, neue Schlussfolgerungen.
Was sagen uns unsere Gene, heute? Nach „2000 Arbeitsstunden und 9000 Stunden Premium-Rechenzeit” steht Powers Genom bereit: Von den Tausenden von Gen-Varianten, die Gesundheitsrisiken bedeuten, wurden bei ihm rund 600 festgestellt. Zuerst erfährt er vom betreuenden Wissenschaftler das Gute: Er besetzt das Neugier-Allel und „drei Varianten, die als Anzeichen von Intelligenz gelten”.
Das weniger Gute: Über ein Dutzend genetische Varianten, die ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit bedeuten. Dazu sollte man freilich wissen: Powers ist dünn, war es immer schon, seine Familie nannte ihn „Strichmännchen“.
248 weitere genetische Varianten erhöhen das Risiko des Schriftstellers, „an ungefähr 77 Krankheiten zu erkranken”, so viel weiß er nun. Was es bedeutet? „Der alte, müde Rat jedes Arztes – essen Sie gesünder, bewegen Sie sich mehr, leben Sie entspannt, nehmen Sie Anteil an der Welt – bekommt plötzlich auf der Molekülebene eine neue Autorität.”
Wichtiger noch als das Wissen um bruchstückhafte Wahrscheinlichkeiten ist für Powers das Gefühl, „das Buch Ich” lesen zu können. „Ich sitze da und studiere mein Genom, schaue mir die Sequenzen an, die mit Stress zu tun haben, mit Sportlichkeit, Hirnleistung, Lebenserwartung. Ich mache mir klar, dass ich diesen Text nun nie wieder loswerde – meine Vergangenheit und meine Zukunft.” Wie werden wir uns fühlen, wenn wir unser Lebensbuch in den Händen halten?
Richard Powers: Das Buch Ich. S. Fischer, 80 S., 12 Euro