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Günter Grass hat seinen letzten großen Roman geschrieben. „Grimms Wörter“ erzählt vom größten Projekt des gelehrten Brüderpaares. Aber Grass nutzt seinen Blick in die LIteraturgeschichte leider auch, um sich selbst ein Denkmal zu setzen. Und das berührt peinlich.

Am Anfang war das Wort. Und das Wort waren viele: Aal und Aas, Abschied und Apfel. Es waren die Brüder Grimm, die mit der linguistischen Botanisiertrommel loszogen - und dabei das berühmteste Wörterbuch der Deutschen schufen. Ihm gilt Günter Grass’ Roman. Es soll „Grimms Wörter” Grass’ letztes großes Buch sein, ein Abschied vom Autoren-Leben. Und leider: eine unbescheidene Selbstdarstellung.

„Eine Liebeserklärung” ist der Untertitel. Wem sie wirklich gilt, darüber wird später noch zu reden sein. Denn nur fürs erste ist Jacobs (1785-1863) und Wilhelms (1786-1859) Werk, der Stoff, aus dem der Traum von einem Roman zu sein scheint. Ein kluger Coup: Günter Grass versucht nicht etwa eine komplette Biografie des gelehrten deutschen Doppels. Er steigt erst in ihr Schicksal ein, als der größte Auftrag ihres nun schon über 50 Jahre währenden Lebens ruft - das Wörterbuch.

Grass muss nicht nach Worten ringen

Und eben dieser Zugriff ist Garant dafür, das Grass in diesem Roman niemals nach Worten ringen muss. Dass er springen darf, dass im Kapitel „C“ die Curtisane dem Cherubim dicht auf den Fersen ist, dass er nach F eine Pause macht, weil Jacob bekanntlich über das Wort „Frucht“ starb.

Grass legt seinen Finger in die ersten der 32 Bände und schon spritzt ihm - und damit uns - die Masse an Fundstücken entgegen, mit denen die Grimms (und jene, die ihr Werk vollendeten) erklärten, woher die Wörter kommen - und ein Wunderwerk anstießen, erst 1960 vollendet.

Wörter - „manche sind Zungenbrecher, andere lassen erkennen, verschleiern, leugnen ab, decken zu oder auf.” Günter Grass, der gelernte Steinmetz, schuftet sich mit Zorn und Lust seit bald 60 Jahren durch den Steinbruch Sprache. Aus ihm hat er wütende Polemik geschlagen, unerreicht meisterliche frühe Lyrik, wuchtige Erzähl-Monolithen. Nun ist er ein alter Mann von 82 - und wenn in „Grimms Wörter” das erste Mal ein „Ich” das Wort ergreift, dann gibt es keinen Zweifel, dass Erzähler und Autor eins sind.

Ehrenwert pingelig

Günter Grass verabschiedet sich mit diesen Roman auf seine Weise. „Seine”, das heißt, das er es vielgesichtig tut. Schwärmerisch schön, liebe-, teilnahmsvoll und affirmativ, wenn er das Los der Grimms beschreibt. Als Minderheit deutscher Gelehrter begehrten sie auf. Grass blickt fasziniert auf diese Welt, in der Demokratie ein Lichtstreif am Horizont ist, aber die Wolke der Zensur schwer und grau. „Fortan”, desgleichen”, „des Krieges Schrecken”: Grass taucht in die Sprache der Zeit, um nah zu sein bei Jacob und Wilhelm, bei ihrer ehrenwerten Pingeligkeit, ihrer Demut vor der Herkulesaufgabe.

Doch Demut ist das Problem: Beklemmend unangenehm berührt, wie der Schriftsteller (der sich bereits im „weiten Feld” aufdringlich selbstbewusst beim wehrlosen Fontane einhakte) das große Grimm-Vehikel für eine eitle autobiografische Skizze ausbeutet. Diese eingestreuten Reflexionen sind nicht wegen ihrer erzählerisch deutlich schwächeren Ausführung ärgerlich. Auch wenn es schmerzt, wie Grass in Konkurrenz zu den Grimms sein eigenes B-Bestiarium aufmacht und beim Stichwort Böll etwa Brot, Billard, Blum, Belagerung im Handumdrehen zum System erklärt oder im Kapitel „C“ in mutwillig gedrechselten Polit-Rhythmen Contergan und CIA vertont.

Nein, viel trauriger ist der Charakter der Inszenierung: Grass macht eine Liebeserklärung - an Grass. Und so werden (trotz quantitativer Überlegenheit) die Grimms immer wieder zu Kronzeugen degradiert. Zur Eskorte eines wahren Grass’schen Heldenlebens, in dem alle seine Kritiker bloß blöde „Claqueure“, versippte Zeitungsfritzen oder kapitalistische Schurken sind.

Auf der Räuberleiter

Wir lesen, von Grass, dem begabten „Willy“-Wahlkämpfer. Von Grass, der Reclam-Hefte an Gewerkschafter verteilt. Grass, der die RAF-Verwerfungen, die Fehler der Wiedervereinigung, den Wirtschafts-Crash selbstredend allesamt vorausgesehen hatte. Grass, der - dann doch nur ein ganz kurzes Absätzchen für seinen Führer-Eid übrig hat. Grass, der aber immer Opfer ist: „bespuckt und verhöhnt und mißachtet, wie vormals der biblische Sündenbock...“.

Das Ich ist groß in diesem Roman und ausgeliefert sind ihm zwei Universalgelehrte, die das nicht verdienen. Ohne Hemmung verbrüdert Grass sich mit Geistesgrößen von Ausnahmerang. Seltsam: Er sieht sich auf Augenhöhe. Wo doch jeder weiß, dass das nicht ohne Räuberleiter geht.

  • So anfechtbar sein wahrscheinlich letzter großer Roman ist, so unbestritten muss man die Sogwirkung von „Grass liest Grass“ bescheinigen. Das starke Hörbuch „Grimms Wörter“ ist wie der Roman (380 S., 29,80 Euro) auf zehn CDs bei Steidl erschienen (39,90 Euro)