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Paul Auster ist der Meister des Versteckspiels mit der Identität. Sein neues Werk „Unsichtbar“ entwickelt einen Strudel voller Sogkraft. Es ist der 13. Roman des amerikanischen Schriftstellers - und es ist sein bisher bester.

Mein Name ist Paul Auster, dies ist nicht mein wirklicher Name. Der US-amerikanische Autor, der seit der „New York Trilogie” als Meister des Identitäts-Spiels gelten durfte, hatte seine Leser in den vergangenen Jahren oft zweifeln lassen, ob sie es wirklich mit dem kraftvollen, erfindungsreichen Erzähler von einst zu tun hatten. Nach einem albernen Hunde-Roman folgten allerlei blutleere Fingerübungen sowie ein abstraktes Werk über die Mühsal des Alterns; zuletzt erregte der 63-Jährige vor allem deshalb Aufmerksamkeit, weil er so hübsch auf Bushs Irakkrieg eindrosch.

Und nun dies. Sein nunmehr 13. Roman, „Unsichtbar”, entwickelt in seinen formalen Spielen einen Strudel voller Sogkraft – und rührt dort unten in der Tiefe an den Kern des Menschseins.

Seinen Lieblingsspielzeugen treu

Dabei bleibt Auster seinen Lieblingsspielzeugen treu. Wieder gibt es ein Buch im Buch und ein Alter Ego des Autors: Adam Walker teilt mit Auster das Geburtsjahr 1947, die jüdischen Wurzeln, den Studienplatz an der New Yorker Columbia University. Auster reist zurück ins Jahr 1967, in dem alles begann, alles neu war, ein Jahr großer und kleiner Umbrüche. Der hoffnungsvolle Jung-Poet begegnet bei einer Party dem französischen Professor Rudolf Born und seiner Freundin Margot. Es beginnt eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung. Born erschreckt Adam durch die in ihm brodelnde Gewalt („das Gesetz des Lebens: töten oder getötet werden”), schließlich begeht Born tatsächlich einen Mord, vor Adams Augen, und flieht nach Paris.

Von hier aus fliegt der Leser unversehens ins Jahr 2007, und von hier an fliegen ihm immer wieder die eigenen, gesichert scheinenden Annahmen um die Ohren. Adam Walker hat seine Geschichte aufgeschrieben, er schickt sie einem ehemaligen Studienkollegen: James Freeman, der – im Gegensatz zu Walker – eine Karriere als Schriftsteller machte (Austers Alter Ego Nummer zwei also). Mit seinen Augen lesen wir den zweiten Teil von Walkers Manuskript, das in Form der Selbstanrede geschrieben ist – wohltuende, rettende Distanz. Ist dies doch die Beichte einer inzestuösen Geschwisterliebe zwischen Adam und seiner älteren Schwester Gwyn, die die allzu große Freiheit der 60er entlarvt („Sex ist Sex, Adam”) – und die möglich wird durch das Trauma des Todes.

Als Kinder verloren Gwyn und Adam ihren Bruder Andy, der nur sieben Jahre alt wurde; er ertrank in einem See. Seither feiern sie heimlich jedes Jahr am 26. Juli Andys Geburtstag, indem sie an sein Leben erinnern, sich seine Gegenwart und Zukunft ausmalen. Die Macht der Erinnerung, die Macht des Wortes.

Sein & Nicht-Wahr-Sein

„Ihr redet von seiner Käfersammlung, seinem Supermann-Umhang und seinen Windpocken. Ihr erinnert euch, wie ihr ihm das Radfahren beigebracht habt. ... Ihr versucht, den Ton leicht und unbeschwert zu halten. ... Seit zehn Jahren führt er in euch dieses Schattendasein, ein Phantombruder, der in einer anderen Dimension herangewachsen ist, unsichtbar und doch atmend, atmend und denkend, denkend und fühlend.” Trieb uns je ein Roman von Paul Auster die Tränen in die Augen?

„Unsichtbar” scheint ja selbst gewachsen im Unsichtbaren, im Verborgenen herangereift neben all den anderen, belangloseren Werken. Dieser Roman ist so durchdacht wie lebendig, er atmet, er fühlt. Wenn Adam nach Paris geht und dort Born begegnet, wenn er dort dessen Schuld rächen will, wenn private wie politische Machtfragen, Misstrauen und Spionage das Verwirrspiel erst richtig spannend machen – dann kehrt Paul Auster nicht nur zu seinen Wurzeln zurück, er stellt sich selbst auch auf fundamentale Weise infrage.

Sprache als alleinige Wahrheit

In den 60er-Jahren in Paris inhalierte Auster die Ideen des Poststrukturalismus, der Sprache für die alleinige Wahrheit hält. Nun aber löst er das Buch im Buch auf: „Der Leser kann sicher sein, dass Adam Walker nicht Adam Walker ist. Gwyn Walker Tedesco ist nicht Gwyn Walker Tedesco. Nicht einmal Born ist Born.”

Was bleibt, ist ein furioses Spiel mit Sichtweisen auf menschliche Abgründe; Auster untersucht die Mechanismen von Verführung, den Missbrauch von Vertrauen. Er wagt sich, den postmodernen Rückspiegel stets im Blick, vor in die ungeahnten Weiten unserer Gefühlswelt. Ein großer, packender, berührender Roman ist: ein großer, packender, berührender Roman.