Neapel. Die Kirche Santa Luciella in Neapel war schon fast verfallen. Studenten organisierten ihre Renovierung – und machten eine gruselige Entdeckung.

Vielleicht war es ja der blaue Fiat Punto, der Santa Luciella vor der Ausplünderung bewahrte. Ein Anwohner parkte den Kleinwagen täglich haarscharf mit dem Heck vor der vergitterten Eingangstür der kleinen Kirche, und man fragt sich, wie der Fahrer es überhaupt schaffte, mit seinem Gefährt in der schmalen Gasse der neapolitanischen Altstadt zu rangieren. Jedenfalls blockierte der Wagen über Jahre hinweg den Eingang zu dem heruntergekommenen Gotteshaus, und womöglich ist es genau diesem Umstand zu verdanken, dass Santa Luciella ai Librai verschont blieb von Dieben und Vandalen. Der Punto wirkte wie ein unüberwindbarer Riegel – und behütete so ein kulturelles Kleinod.

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Massimo Faella erzählt diese Geschichte, während er durch den Altarraum der kleinen Kirche im historischen Zentrum Neapels führt. Faella gehört zu den Gründern der Initiative „Respiriamo Arte“, was soviel heißt wie „Wir atmen Kunst“. Faella und seine drei Mitstreiterinnen Simona Trudi, Angela Rogliani und Francesca Licata, allesamt Hochschulabsolventen aus den Bereichen Kunst oder Literatur, verschrieben sich der Sache, vergessene und akut vom Verfall bedrohte Kirchen in Neapel zu retten. „Es geht uns darum, soviel wie möglich vom historischen und künstlerischen Erbe der Stadt zu retten“, sagt Faella. So wie Santa Luciella.

Massimo Faella, Simona Trudi, Angela Rogliani und Francesca Licata retten die Kirche vor dem Verfall.
Massimo Faella, Simona Trudi, Angela Rogliani und Francesca Licata retten die Kirche vor dem Verfall. © Raimondo Fiorenza | Raimondo Fiorenza

Nun ist es ja nicht so, als mangele es in Neapel an Kirchenbauten. „Was uns in Neapel am außergewöhnlichsten erschien, ist die Zahl und die Pracht seiner Kirchen“, schwärmte schon Mitte des 18. Jahrhunderts der französische Reiseschriftsteller Maximilien Misson. „Ich kann euch ohne zu übertreiben sagen, dass es die Vorstellungskraft weit übertrifft.“ In Reiseführern ist heute von mehr als 500 Gotteshäusern in der Drei-Millionen-Metropole die Rede. Wirklich gezählt hat sie womöglich keiner. Unter den neapolitanischen Kirchen sind Bauwerke, deren Bedeutung für die Kunstwelt sie zu touristischen Attraktionen macht. So liegt nur ein paar Schritte von Santa Luciella entfernt San Gregorio Armeno, eine der prächtigsten Barockkirchen der Stadt, mit einem angegliederten Kloster samt großem Kreuzgang, in dem Orangenbäume blühen. Und spaziert man noch ein paar Minuten weiter, erreicht man die Cappella San Severo mit dem weltberühmten „Cristo velato“, dem verschleierten Christus, eine lebensgroße Marmorstatue des Barock-Bildhauers Giuseppe Sanmartino. Santa Luciella, die „kleine Lucia“, muss sich hinter diesen kirchen- und kunstgeschichtlichen Riesen nicht verstecken. Sie hat ihre eigene Geschichte zu erzählen – die Geschichte ihrer Wiedergeburt.

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Der „Indiana Jones von Neapel“

Die Kirche war in einem erbarmungswürdigen Zustand, als Massimo Faella vor rund zwölf Jahren auf die Kirche stieß. „Ich bekam ein kleines Buch des Journalisten Paolo Barbuto in die Hände“, erinnert sich Faella. Der Titel: „Die verbotenen Kirchen Neapels.“ Darin führt Barbuto, der als Reporter bei der neapolitanischen Tageszeitung „Il Mattino“ arbeitet, rund 15 Kirchen und Kapellen auf (oder besser gesagt: was von ihnen übrig blieb). Er fand sie bei seinen Recherchen über das gefährdete Erbe der Stadt in feuchten Kellern und hinter verbarrikadierten Türen. Eingestürzt und überbaut, geschlossen und vergessen. „Es gibt heute immer noch solche Kirchen zu entdecken“, sagt Barbuto, der für seine Nachforschungen auch „Indiana Jones von Neapel“ genannt wird.

Santa Luciella in der Außenansicht.
Santa Luciella in der Außenansicht. © Raimondo Fiorenza | Raimondo Fiorenza

Das Kapitel über Santa Luciella in seinem Buch begann er mit dem Satz: „Dies könnte ein kleines Barock-Juwel im Herzen der Stadt sein.“ Stattdessen fand er im Innern die Spuren jahrzehntelangen Verfalls, mindestens 30 Jahre war das Gotteshaus verlassen. Der Boden übersät mit abgefallenem Putz, der Altar überdeckt von Unrat. Feuchtigkeit und Schimmel hatten ganze Arbeit geleistet. Ein Bild des Jammers. Die beiden Glocken hingen windschief in den Halterungen, der unter dem Kirchenschiff über eine schmale Stiege erreichbare kleine Friedhof sah nicht besser aus. Einige alte Spielzeugautos, die Faella hier zwischen allerlei Gerümpel fand, deuteten darauf hin, dass hier zeitweise Kinder ihre Autorennen ausgetragen hatten.„Ich hatte mich sofort in diese Kirche verguckt“, erinnert sich Faella. Und er erkundete ihre Geschichte.

Schutzpatronin der Steinhauer

Gegründet wurde Santa Luciella 1327 von Bartolomeo Di Capua, einem Juristen am Königlichen Hof von Neapel, der später zum päpstlichen Notar berufen wurde. Man weihte die Kirche auf die Heilige Santa Lucia, Schutzpatronin der Blinden, die in Neapel besonders von den Arbeitern in den Steinbrüchen verehrt wurde, damit sie ihre bei der Arbeit ungeschützten Augen vor scharfen Steinsplittern beschütze. Um Verwechslungen mit der Basilica di Santa Lucia a Mare im Hafenviertel Neapels vorzubeugen, nannte man die Kapelle eben Santa Luciella, die „kleine Lucia“. Massimo Faella und seine Mitstreiterinnen, die die „Wiedergeburt“ der Kirche zu ihrem Projekt gemacht hatten, begannen damit, die Kirchenräume vorsichtig zu entrümpeln und zu säubern. Es gelang ihnen, öffentliche Gelder für die Renovierung zu akquirieren, auch ein großes Unternehmen steuerte einen fünfstelligen Betrag bei. Heute finanzieren sie die Instandhaltung der Kirche komplett durch Spenden und Eintrittsgelder der Touristen, die dieses Kleinod entdeckt haben. Und die kommen in immer größerer Zahl, um die kunstvoll restaurierten Altäre und Madonnenbilder oder den blauglänzend gekachelten Boden zu bestaunen.

Kleine Zettel mit frommen Botschaften

Links oben der „Totenkopf mit den Ohren“.
Links oben der „Totenkopf mit den Ohren“. © Raimondo Fiorenza | Raimondo Fiorenza

Eine Besonderheit mit Gruselfaktor findet sich in dem kleinen unterirdischen Friedhof: „Il teschio con le orecchie“ – der Totenkopf mit den Ohren. Bis etwa zum Beginn des 20. Jahrhunderts galt der Totenkopf als Mittler zwischen Diesseits und Jenseits, also flüsterten die Kirchgänger dem Schädel ihre persönlichen Gebete und Fürbitten sozusagen ins Ohr – in der Hoffnung, er würde die frommen Worte ins Jenseits transportiere. Vermittler zwischen Lebenden und Toten eben. Und: Nach der Neueröffnung der Kirche setzt sich diese Tradition fort. „Als wir da merkten, haben wir vor dem Totenkopf kleine Körbchen aufgestellt, in die die Besucher kleine Zettel mit ihren Fürbitten oder Bitten legen können“, erzählt Massimo Faella. Wirft man einen Blick auf die kurzen Botschaften, so findet man herzzerreißende Worte: „Lieber Totenkopf, grüß mir Mamma“, steht da beispielsweise, oder: „Sag unserem Sohn, dass wir ihn sehr vermissen.“

Die Organisatoren von Respiriamo Arte haben inzwischen zwei weitere ähnliche Projekte in Neapel angestoßen. „Wir wollen den Einwohnern dieser Stadt ein Stück ihrer Geschichte wiedergeben“, sagt Massimo Faella. Tatsächlich steht Santa Luciella ai Librai stellvertretend für viele vergessene oder verlassene, aber kulturell und geschichtlich bedeutende Orte, die in den letzten Jahren zu neuem Leben erweckt wurden – nicht selten durch das Engagement von Initiativen wie Respiriamo Arte.

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Doch längst nicht immer gelingt dies, wie Paolo Barbuto, der „Indiana Jones von Neapel“, konstatieren muss. „Von den 15 vergessenen Kirchen, die ich 2010 in meinem kleinen Buch vorgestellt habe, sind bis auf zwei oder drei mittlerweile allesamt endgültig verfallen.“ Eine der Geretteten ist Santa Luciella mit dem „Totenkopf mit Ohren“.

Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei. Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent? Hier geht es zu unseren Angeboten.