Essen. Die Krupps bezogen vor 150 Jahren ihren legendären Familiensitz: die Villa Hügel. Ein Rückblick zum Jubiläumsjahr.
Hoch über dem Essener Baldeneysee thront seit 150 Jahren das größte Einfamilienhaus des Landes: die Villa Hügel. Hier lebte einst die Familie Krupp, die mächtigste Industriellendynastie des Deutschen Reiches. Wie kaum ein anderes Bauwerk erinnert sie daher an die Macht, den Glanz und die Größe der Stahl- und Kohleindustrie im Ruhrgebiet.
„Die Villa Hügel ist ein Monument ihrer selbst“, sagt Ralf Stremmel. Er ist Historiker und leitet das Historische Archiv Krupp, kennt die Geschichte der Villa und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner so gut wie kaum ein anderer – und ist dennoch überzeugt: „Ein großes Haus wie dieses verrät seine Geheimnisse nie endgültig.“
Ein paar Geheimnisse verraten wir hier aber doch. Die 269 Räume der 8100 Quadratmeter großen Villa, die damit eher einem Schloss gleicht, erzählen schließlich noch heute Geschichten: vom Gründer Alfred Krupp, von den Mächtigen, die hier ein- und ausgingen, und von der Rolle des Unternehmens im Zweiten Weltkrieg. Wer den Mythos „Villa Hügel“ verstehen will, muss einen Blick darauf werfen, wie sich das Anwesen immer wieder neu erfunden hat.
Villa Hügel in Essen: das Werk eines Technik-Besessenen
Mit gerade einmal 14 Jahren übernahm Alfred Krupp nach dem Tod seines Vaters erste Verantwortung in der Firma „Fried. Krupp“ – und baute sie in den folgenden Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Industrieunternehmen aus.
Ab 1870, auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, ließ er die Villa Hügel errichten. Dabei kam es ihm allerdings nicht in erster Linie auf eine herausragende Architektur an, sagt Historiker Ralf Stremmel: „Alfred Krupp wollte kein Highlight der Architektur seiner Zeit bauen. Ihm ging es darum, ein technisches, ein funktionelles Meisterwerk zu schaffen.“ So gab es bereits mit Bezug des Hauses Telegraphenstationen, 1887 wurden Telefone installiert, zwei Jahre später kamen Strom und elektrische Beleuchtung hinzu.
Eine weitere Innovation: eine funktionsfähige Klimaanlage. „Alfred Krupp hat seinen Architekten die Anweisung gegeben, dass, wenn er von einem Ausritt ins Haus kommt, er zuerst in einen Raum mit 18 Réaumur-Grad kommen möchte. Das sind etwa 22 Grad Celsius. Dann in einen Salon mit 16 Réaumur-Grad und schlussendlich in sein Arbeitszimmer mit 14 Réaumur-Grad“, sagt Stremmel. „Das sind Vorstellungen, die, etwas überspitzt formuliert, seinen Machbarkeitswahn zeigen.“
Dass Alfred Krupps Ideen an Größenwahn grenzten, ist kein Geheimnis. Kein Wunder, dass es zu Konflikten mit seinen Architekten kam. „Es wird in Deutschland vielleicht keinen Bauherrn geben, welcher so schwer zufriedenzustellen ist wie Sie“, schrieb einer der leitenden Architekten im März 1873 in einem Brief an Alfred Krupp.
Villa Hügel in Essen als „Symbol für Innovationskraft“
Dass der Bauherr so viel Wert auf technische Finessen legte, diente einem bestimmten Zweck: „Die Villa ist Symbol für Innovationskraft“, so Stremmel. Hier wollte Alfred Krupp seinen Gästen zeigen, wie erfolgreich und leistungsstark seine Firma ist. Die Villa Hügel sollte als Begegnungsort für „erste Gesellschaften mit großen Ansprüchen“ dienen, wie Alfred Krupp selbst es ausdrückte.
Und prominente Besucher, darunter wichtige Geschäftspartner und Staatsgäste aus der ganzen Welt, hat es auf der Villa Hügel viele gegeben. Bereits mit dem Einzug der Familie im Jahr 1873 war der Schah von Persien zu Besuch, ihm folgten beispielsweise Kaiser Wilhelm I., der chinesische Vizekönig Li Hongzhang und Dom Pedro, der Kaiser von Brasilien.
Der Hügel wurde damit bereits früh zum „Symbol der Globalisierung“. Neben der Repräsentation diente die Villa aber auch noch einem anderen Zweck: Als privater Wohnsitz sollte sie der Familie ein intimes, bürgerliches Leben ermöglichen – was Alfred Krupp als „Komfort der kleinen Häuslichkeit“ beschrieb.
„Diesen Komfort der kleinen Häuslichkeit kann man kaum erahnen, wenn man in diesen Riesenhallen steht“, sagt Stremmel. „Aber es gab natürlich Rückzugsorte für die Familie: überschaubar dimensionierte Salons und Wohnzimmer zum Beispiel.“
Deutlich mehr dieser privaten Rückzugsorte entstanden, als mit Friedrich Alfred (1854-1902) und Margarethe Krupp (1854-1931) die nächste Generation die Firma und damit auch die Villa übernahm. Denn mit den beiden 1886 und 1887 geborenen Töchtern Bertha und Barbara wohnte nun eine junge Familie in dem Anwesen.
570 Angestellte bei der Essener Villa Hügel
Das Leben auf dem Hügel wurde immer betriebsamer, wie auch die Anzahl der Bediensteten zeigt: Während Bauherr Alfred Krupp im Jahr 1876 noch mit 66 Angestellten auskam, benötigte sein Sohn im Jahr 1902 rund 570 Mitarbeitende, um das Anwesen zu bewirtschaften.
Für die zahlreichen Gäste und auch zu ihrer eigenen Unterhaltung, ließ die Familie außerdem Tennisplätze, Reitanlagen, Lese- und Spielzimmer sowie ein Gesellschaftshaus mit Kegelbahn und Bibliothek errichten. Während Alfred Krupp aus großer Furcht vor Feuer kaum Holz nutzte, wurden zahlreiche Holzvertäfelungen angebracht und die Eisentreppe durch eine hölzerne Treppe im Stil der Renaissance ersetzt.
„Haus im Haus“ und Spatzenhaus in der Villa Hügel
So repräsentativ und modern die Villa für hohe Gäste wirken mochte, so einschüchternd konnte sie für die Kinder sein. Im Rahmen des großen Umbaus entstand 1902 daher in einem Zwischengeschoss ein separater Wohnbereich für die beiden Töchter, eine Art „Haus im Haus“.
Diese sogenannte Kemenate ermöglichte es Bertha und Barbara, sich in Räume mit familiäreren, wohnlicheren Dimensionen zurückzuziehen. „So hatten sie die Möglichkeit, ein wenig wegzukommen von dem Korsett an Pflichten und Zwängen, dem sie ja sonst unterworfen waren“, sagt Stremmel. Damit die beiden Mädchen schon im jungen Alter spielerisch an die Aufgaben herangeführt werden konnten, die sie als Erwachsene übernehmen mussten, wurde im 28 Hektar großen Park außerdem das „Spatzenhaus“ errichtet.
„Hier haben sie kochen gelernt und ganze Menüs vorbereitet – unter anderem für den Kaiser und die Kaiserin, die im Spatzenhaus zu Gast waren. Es ging darum, den beiden Mädchen zu zeigen, was sie später einmal leisten sollten: einen Riesenhaushalt führen und entsprechend repräsentieren.“
Die Rolle der Hausherrin musste Bertha Krupp früher als erwartet übernehmen. Mit 16 Jahren erbte sie nach dem Tod ihres Vaters das Weltunternehmen. Vier Jahre später, im Jahr 1906, lernte Bertha in Rom den Diplomaten Gustav von Bohlen und Halbach kennen und verliebte sich. Nach ihrer Hochzeit übernahm ihr Ehemann die Geschäfte, Bertha zog sich auf eine Rolle im Hintergrund zurück – bestimmte aber bei allen entscheidenden Weichenstellungen des Unternehmens offenkundig mit.
Ein Symbol ihres Mitspracherechts und der geschäftlichen Zusammenarbeit des Ehepaares ist der Doppelschreibtisch, der noch heute im ehemaligen Arbeitszimmer zu sehen ist. Da das Unternehmen zu der Zeit hohe Gewinne abwarf, gaben Bertha und Gustav Krupp von Bohlen und Halbach die bisher umfassendsten Umbauten der Villa in Auftrag. Um dem Geschmack der großbürgerlichen Elite des Kaiserreichs zu entsprechen, wurden Kaiser Wilhelms II. Hofarchitekten und namhafte Kunsthistoriker beauftragt.
So entstanden in den Jahren 1913 bis 1916 viele Elemente, die die heutige Gestalt der Villa Hügel prägen, wie etwa die überdachten Vorfahrten, die aufwendige Innengestaltung der Unteren und Oberen Halle sowie eine neue Gemäldegalerie.
Die Waffenschmiede der Nazis
Als Adolf Hitler an die Macht kam, machte Gustav von Bohlen und Halbach Geschäfte mit der Wehrmacht und den Nationalsozialisten. Insgesamt vier Mal war Hitler in der Villa Hügel, spazierte mit dem Ehepaar Krupp durch den Garten hinter dem Haus. Das letzte Mal war Hitler 1940 zu Gast, zum 70. Geburtstag des Unternehmers. Drei Jahre später übernahm Sohn Alfried Krupp von Bohlen und Halbach das Unternehmen, das längst ein wichtiges Zahnrad in der deutschen Rüstungsproduktion war: Geschütze, Flugabwehrkanonen und Panzer wurden in Essen hergestellt.
Als schließlich die amerikanischen Militärjeeps im April 1945 vorfuhren, wurde der Inhaber der „Waffenschmiede der Nazis“ auf der Stelle verhaftet. In einem Jeep wurde er zum Verhör an einen geheimen Ort gebracht, die Bilder davon gingen um die Welt.
Während sein Vater Gustav – der Zwangsarbeiter in seinen Stahlwerken schuften ließ und zu den Hauptkriegsverbrechern gehörte, die von den Alliierten in Nürnberg angeklagt wurden – aufgrund seiner Demenz einer angemessenen Strafe entging, wurde Alfried verurteilt. Auch die Villa Hügel wurde beschlagnahmt und zum Sitz der „Alliierten Kohlenkontrollkommission“.
Dior-Modenschau in der Essener Villa Hügel
Als die Alliierten 1952 schließlich abzogen, erhielt die Familie das Anwesen zurück. Die Krupps lebten allerdings nie wieder in der Villa Hügel, sondern stellten sie der Allgemeinheit zur Verfügung – um Kunst, Wissenschaft und Kultur zu fördern. Bereits 1953 öffneten sich die Tore erstmals für die Öffentlichkeit.
Im selben Jahr veranstaltete die französische Luxusmarke Dior eine Modenschau auf dem Hügel. Heute arbeiten gleich drei Einrichtungen gemeinsam daran, das Erbe zu bewahren: die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung als Eigentümerin der Villa Hügel, das Historische Archiv Krupp, das ebenfalls zur Krupp-Stiftung gehört sowie die Kulturstiftung Ruhr.
„Das Haus wird nicht in der Vergangenheit stehen bleiben“
Letztere wurde 1984 von Berthold Beitz gegründet. Dieser rettete im Zweiten Weltkrieg zusammen mit seiner Frau Else Hunderte Jüdinnen und Juden vor den Nazis – und heuerte nach Kriegsende ausgerechnet bei der einstigen Waffenschmiede Krupp an. Dort wurde er zum engsten Vertrauten des Konzernchefs, gestaltete so den Wiederaufbau der Industrie. Nach Alfried Krupps Tod im Jahr 1967 leitete Beitz die Firma Krupp.
An all diese Geschichten soll während des Jubiläums-Jahres erinnert werden. Ziel ist es aber auch, die Villa Hügel samt all ihrer Legenden, Tragödien und Informationen für die Zukunft zu wappnen. „Das Haus darf und wird nicht in der Vergangenheit stehen bleiben“, sagt Historiker Stremmel. Obwohl sich die Villa Hügel zu ihrem 150. Jubiläum der Öffentlichkeit in einem nie da gewesenen Maße öffnen wird – ihre Geheimnisse wird sie vermutlich nie vollständig preisgeben.