Essen. Früher wurde man Punk, heute tanzt man gemeinsam mit Mutti auf TikTok. Experten erklären, was es mit Kindern macht, wenn Eltern Kumpel spielen.
Brigitte und Herbert sind Insta-famous. Das hätten sie sich auf ihre alten Tage nicht träumen lassen. Bei Herbert hapert’s noch ein bisschen am Hüftschwung, Biggi kommt zwischendurch aus dem Takt, aber die Choreo sitzt. Das Grinsen im Gesicht wirkt ein bisschen angestrengt, man muss sich konzentrieren, will ja mit dem Nachwuchs mithalten. Der tanzt im Vordergrund, singt mit und freut sich. Zigtausend Leute sehen zu.
Während die Insta-Eltern für die nächste Tanz-Challenge üben, will zwei Häuser weiter Mama Heike von Tochter Leonie wissen, ob sie sie heute Abend zur Party fahren soll. „Ich würde ja so gerne mal wieder tanzen gehen!“ Ob da ein Junge ist, der Leonie gefällt? „Als ich in deinem Alter war, hatte ich immer einen Verehrer.“ Dass ihre 16-jährige Tochter das nicht wissen will, ist Heike egal.
Heike gibt es übrigens nicht, auch nicht Herbert und Brigitte, aber es gibt Eltern wie sie. Locker, jung geblieben und für jeden Spaß zu haben. Eltern, die so viel mitmachen und so lässig sind, dass sie fast nicht mehr wie Eltern wirken, sondern eher wie Freunde. Aber was macht das mit Kindern?
Können Eltern die besten Freunde ihrer Kinder sein?
Sollten sie es? Die Frage spaltet, im Gespräch mit Bekannten und in den Sozialen Medien: „Ja sicher“, schreiben mehrere Nutzerinnen und Nutzer auf Facebook und ernten dafür „Daumen nach oben’“ und Herz-Emojis. Die überwiegende Mehrheit aber ist anderer Meinung. „Eltern sind Eltern, und beste Freunde sind beste Freunde“, bringt es eine Mutter auf den Punkt. Ein anderer Nutzer stimmt zu: „Auf keinen Fall. Aus den Kindern soll ja was werden, und das erfordert Erziehung. Die ist mit Konflikten verbunden, die man in einer Freundschaft nicht austragen kann.“
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So sieht es auch Elternberater Mathias Voelchert: „Eltern sind in einer Art und Weise mit ihren Kindern verbunden, die weit über eine Freundschaft hinausgeht. Das bedeutet auch, dass ich als Elternteil Verantwortung habe und übernehme.“ Der 69-Jährige ist Gründer der Beratungsorganisation „Familylab“. Seine langjährige Arbeit mit Familien hat ihn zu dem Schluss gebracht: „Kinder wollen ihre Eltern groß, aber nicht gleich.“ Das Ziel des Konstrukts Familie und damit auch Aufgabe der Eltern sei es, Kindern eine Orientierung zu bieten in der gemeinsamen Zeit, um sie später beruhigt in ein selbstständiges Leben entlassen zu können.
Autoritär war gestern – aber was kommt danach?
„Liebevolle elterliche Führung“ ist für Mathias Voelchert das Mittel der Wahl, so heißt auch eines seiner Bücher. Aber genau diese liebevolle elterliche Führung falle Eltern oft schwer. „Viele Eltern wollen lieb sein und hätten gerne liebe Kinder.“ Früher war zumindest Letzteres klar definiert: „Lieb“ war, wer spurte, wenn der Vater nur mit dem Finger schnipste. Autorität verschaffte man sich damals anders als heute. Bis in die 70er-Jahre war die Prügelstrafe in deutschen Schulen noch gängige Praxis, dann wurde sie nach und nach abgeschafft. Privat durfte weitergeprügelt werden, bis Kindern um die Jahrtausendwende, das „Recht auf gewaltfreie Erziehung“ zugesprochen wurde.
Die Jugend mit zweifelhaften Methoden zu obrigkeitsgetreuen Duckmäusern zu erziehen – dieser Ansatz ist aus der Mode gekommen: „Kein Mensch will solche Angestellte, nicht mal die Armee.“ Voelchert hat sie miterlebt, die Entwicklung weg vom Klaps auf den Po, „der noch keinem geschadet hat“, hin zu Väter-Seminaren, in denen nicht zwei oder drei, sondern 20 Väter sitzen. „Es gibt ganz viel Bedarf, gerade bei Männern, diese autoritären, schadenden Strukturen hinter sich zu lassen.“
Generationenforscher: Zu viel Laissez-fair überfordert Kinder
Heute sind es also die Eltern, die lieb sein wollen. Das sei auch gut so: Kinder bräuchten enge Bindungen und Sicherheit, die ihnen nur die Erwachsenen geben können, so Mathias Voelchert. „Kinder schenken einem viel Vertrauen, das darf man nicht missbrauchen.“ Durch autoritäre Erziehung, aber eben auch nicht, indem man den Nachwuchs sich selbst überlässt. „Kinder haben ein Recht, erzogen zu werden“, sagt der Augsburger Generationenforscher und Psychologe Rüdiger Maas. In zahlreichen „Generation Thinking Studien“ setzen er und sein Team vom Institut für Generationenforschung sich mit den Einflüssen der einen auf die andere Generation auseinander.
Eine Beobachtung von vielen: Die heutige Elterngeneration begegnet ihren Kindern altersinadäquat. Beispiel: morgens beim Fertigmachen. Es ist Winter, Max hat aber keine Lust, einen Pullover anzuziehen – muss er auch nicht, die Entscheidung wird ihm überlassen, der Konflikt gescheut. Damit zählt Mäxchen zu den 17 Prozent der Kinder, die unzureichend gekleidet in den Kindergarten geschickt werden. Tendenz steigend. „Die Eltern sagen: Wenn du das willst, musst du das selbst entscheiden, ich will ja deine Persönlichkeit stärken“, erklärt Maas den Gedanken hinter dem Phänomen. Dabei sei vielen nicht bewusst, dass es ihr Kind anstrenge, den ganzen Tag Entscheidungen treffen zu müssen. „Vor allem junge Kinder können gewisse Zusammenhänge noch nicht reflektieren.“
„Auf der Seite des Kindes sein, ohne sich anzubiedern“
„Wir haben eine Elterngeneration, die immer unsicherer wird“, beobachtet der Psychologe: Über 90 Prozent der Eltern googeln heutzutage die Unwegsamkeiten ihrer Kinder, der Ratgeber-Markt floriert. „Eltern können auch viel weniger mit Konflikten umgehen und nehmen sie viel persönlicher, als es früher der Fall war.“ Das sei auch einem gewissen gesellschaftlichen Druck geschuldet: „Wenn in der ersten Klasse alle Kinder gefahren werden, kann ich mein Kind nicht alleine laufen lassen – ich würde ja sofort sanktioniert.“ An der Überbehütung, wie sie Eltern anhand genau dieses Beispiels gerne vorgeworfen wird, besteht also irgendwie auch eine Kollektivschuld.
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Und dann wäre da noch das große Ganze: ein Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, das sich verschoben zu haben scheint. Im Gegensatz zu früher, so Rüdiger Maas, sind Eltern keine „Abgrenzungssubjekte“ mehr. Wenn der Vater damals Zeitung lesend Wagner hörte, drehte der Sohn die „Sex Pistols“ auf, rasierte sich einen Irokesen und färbte ihn grün. Diese „natürliche Distanz nach oben“ gebe es heute nicht mehr, der „Mainstream“ habe uns eingeholt: Kinder haben kein Bedürfnis mehr nach Abgrenzung, Eltern spielen die „Best Buddies“, sind oft die größten Fans ihrer Sprösslinge und tanzen mit ihnen im Internet. „Wir haben Eltern, die sagen, sie haben ein Problem, wenn sie nicht als die besten Freunde ihrer Kinder wahrgenommen werden.“
Haben sie eines? Als Mathias Voelcherts Sohn mal zu ihm sagte, er sei sein bester Freund, habe er ihm geantwortet: „Ich bin dein Vater, ich würde mein Leben für dich geben. Ich spiele in einer ganz anderen Liga.“ Man könne auf der Seite des Kindes sein, ohne sich anzubiedern. Erziehung auf Augenhöhe habe nichts mit einer Kumpelrolle zu tun. Wie Erziehung auf Augenhöhe aussehen kann, ist allerdings eine Frage der Definition. Schon der Begriff sei missverständlich, moniert Generationenforscher Maas. Viele verstünden darunter, mit ihrem Kind zu sprechen, als ob es 40 oder man selbst drei Jahre alt wäre. Der zweifache Vater plädiert stattdessen für die bedürfnisorientierte Erziehung: „Die Idee ist, die Bedürfnisse des Kindes altersentsprechend wahrzunehmen und daraus zu agieren, hierfür braucht es aber sehr viel Zeit und Geduld, und die haben die meisten heute nicht mehr.“
Eltern halten sehr an ihren Kindern fest
Die Bedürfnisse des Kindes erkennen und entsprechend handeln – leichter gesagt, als getan. Die Faustregel gilt nämlich nicht nur, wenn der Nachwuchs gerade laufen lernt, sondern auch, wenn er flügge wird. Die Experten sind sich einig: Vielen Eltern fällt es heutzutage schwer loszulassen. Frei nach dem Motto „Beste Freunde kann niemand trennen“, begleiten sie ihre Sprösslinge zu Uni-Vorlesungen und nehmen ihnen mit 20 Jahren noch genauso viel Verantwortung ab wie mit zwei. Oft stecke hinter dem Festhalten an den Kindern eine Vermeidungstaktik: „Ich erlebe viele Paare, die große Schwierigkeiten haben, wenn das letzte Kind auszieht“, berichtet Mathias Voelchert. Für die Kinder sei der Auszug ein natürlicher Schritt. Mutter und Vater „fallen in ein Loch“, müssen sich neu finden – eben nicht mehr „nur“ als Eltern, sondern wieder als Paar.
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Ein Trost: Zumindest das Verhältnis der Kinder zu den Eltern leidet nicht unter der Abnabelung, da sind sich Psychologen und Jugendforscher einig. Im Gegenteil, oft wird es sogar besser. Wenn man nicht mehr unter einem Dach wohnt, gibt es weniger Reibungspunkte, jeder führt sein eigenes Leben. So sollte es auch sein, wie Mathias Voelchert anhand eines Beispiels aus seiner Praxis zeigt: Eine Tochter beschwert sich jeden Tag am Telefon bei ihrer Mutter über ihren Mann. „Auch in diesem Fall ist es für die Mutter keine gute Idee, die beste Freundin zu spielen“, erklärt der Berater, „denn so wird die Paarbeziehung der Tochter nicht besser“. Die Mutter stehe bedingungslos auf der Seite ihrer Tochter. Doch statt als Puffer zu fungieren, sollte sie sich zurücknehmen. Nur so könne die Tochter lernen, ihre Beziehungsprobleme mit demjenigen auszumachen, den sie etwas angehen: nämlich ihren Mann.
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