Bochum/Dießen. „Burn-on“ statt „Burn-out“: Ein Experte verrät, was die depressive Dauererschöpfung durch zu viel Arbeit ausmacht und was Betroffene tun können.
Sehr viele Arbeitnehmer kennen es aus eigener Erfahrung oder aus Erlebnissen mit den Kollegen am Arbeitsplatz: Irgendwann sagt jemand den Satz „Wenn du so weitermachst, bekommst du einen Burn-out.“
Aber was ist, wenn der Burn-out ausbleibt, der damit verbundene Zusammenbruch nicht eintritt? Wenn der Betroffene immer wieder so arbeitet, dass er an die Grenzen seiner Belastbarkeit geht, erschöpft wirkt, aber einfach so weitermacht?
Der Psychosomatik-Experte Bert te Wild, der lange Zeit am LWL-Universitätsklinikum für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Ruhr-Universität Bochum arbeitete und nun als Chefarzt in der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee, hat mit seinem Kollegen Timo Schiele über die depressive Dauererschöpfung ein Buch geschrieben – und will verstärkt darauf aufmerksam machen.
Denn auch ständige Belastung ohne echte Erholung kann schwere Krankheiten verursachen. Georg Howahl sprach mit dem Arzt.
Herr te Wildt, jeder kennt anscheinend den Burn-out, nur wenige den „Burn-on“, wie Sie ihn bezeichnen. Wie haben Sie dieses Leiden entdeckt?
te Wildt: Wir haben immer mehr Patienten gesehen, die im Hinblick auf die Arbeit über eine extreme Erschöpfung klagten. Sie hatten aber nicht diesen klassischen Zusammenbruch, der typischerweise dazu führt, dass jemand gar nicht weiterarbeiten kann.
Diese Burn-out-Patienten sind oft der Arbeit entfremdet und offensichtlich depressiv. Im Gegensatz dazu sitzen beim „Burn-on“ die Patienten oft strahlend vor einem und sagen: Ich bin total erschöpft und das hat natürlich alles was mit der Arbeit zu tun, deswegen brauche ich jetzt eine Behandlung. Aber sie sagen: Meine Arbeit ist super, mein Leben ist super.
Häufig haben sie bis in die Nacht vorher noch gearbeitet. Es gibt da offensichtlich einen großen Unterschied in der Symptomatik, im Krankheitsverlauf, in der Einstellung gegenüber sich selbst, der Arbeit, aber auch gegenüber der Behandlung. Sie brauchen etwas anderes von uns, um sich überhaupt auf eine Behandlung richtig einlassen zu können. Und um in der Klinik nicht noch weiterzuarbeiten.
Denkt man da zuerst, dass es eine Art „glückliche Erschöpfung“ ist?
Wenn man genauer hinhört und nachfragt, stellt man fest, dass diese Menschen durchaus depressiv sind. Depressivität kann sich auch hinter einem Lächeln verbergen. Diese Menschen sind häufig schon sehr lange in so einem Zustand.
Sie haben nicht selten auch ein paar körperliche Probleme. Den Burn-out mit seinem typischen Zusammenbruch, diesem Moment, in dem nichts mehr geht, könnte man auch als eine akute Erschöpfungsdepression bezeichnen. Das traf bei den anderen Patienten aber nicht zu. Wir stellten hier eher eine Art chronische Erschöpfungsdepression fest. Und da bot sich dieser Begriff „Burn-on“ an, also eine Art Dauerbrenner, wenn man so will.
Bochumer Experte über Burn-on: Erschöpfungsdepression durch zu viel Arbeit
Meinen nicht heute viele Menschen, kurz vorm Burn-out zu stehen?
Wenn ich in meinem Freundeskreis eine Umfrage machen würde, wer gerade das Gefühl hat, an der Grenze zum Burn-out zu stehen, dann würde wahrscheinlich die Hälfte sagen: Ja, das tue ich. Aber das tun sie nicht. Wir behaupten auch, dass wir längst gelernt haben, einem Burn-out entgegenzuwirken und trotzdem weiterzumachen.
Also eigentlich in einer Erschöpfungsdepression schon drin zu sein und trotzdem immer wieder Mittel und Wege zu finden, weiterzumachen. Auch dadurch, dass wir unser Privatleben generalstabsmäßig durchplanen und selbst die kleinen Inseln von Entspannung letztendlich auch organisieren. Viele der Patienten, die zu uns kommen, gehen einmal in der Woche zum Physiotherapeuten, dann noch zur Thai Massage. Sie machen verlängerte Wochenenden mit Power-Yoga oder Hardcore- Wellness.
Darf dann auch ein bisschen Achtsamkeitstraining dabei sein?
Ja, auch Achtsamkeit kann man missbrauchen. Allerdings ist es, wenn man das Konzept funktionalisiert, keine Achtsamkeit mehr.
Man strengt sich also dabei an, dem Burn-out entgegenzuwirken?
Das hat sich zum Teil so entwickelt, weil der Burn-out ein Angstgegner geworden ist. Die Krankschreibungen und Verrentungen aufgrund von arbeitsbezogenen Störungen, sind in den letzten Jahren in die Höhe geschnellt, so dass es einem echt schwindelig werden kann. Ich glaube, wir steuern kollektiv zwar ein Stück weit dagegen, kultivieren aber eventuell eine ganz andere Art von Erschöpfung.
Bochumer Experte verrät Warnzeichen eines „Burn-on“
Kommen die Patienten eigentlich aus eigenem Antrieb zu Ihnen? Oder brauchen sie einen Anstoß auch von außen?
Es sind häufig Angehörige, die den Anstoß geben, manchmal auch Chefs oder Mitarbeiter, die sagen: „Hey, so geht es nicht weiter. Du bist völlig abwesend, unkonzentriert, du lächelst alles weg. Eigentlich strahlst du ganz negative Stimmung aus und wirkst total erschöpft.“ Es erinnert manchmal so ein bisschen an Suchtpatienten und hat gewisse Nähe zum Phänomen der Arbeitssucht, auch wenn das durchaus sehr umstritten ist.
Was sind Symptome und Warnzeichen im Falle eines „Burn-on“?
Typischerweise wäre das eine depressive Stimmung, die aber ein bisschen versteckt sein kann. Es gibt Menschen, die sagen: Mir geht es gut, aber eigentlich macht mir nichts mehr Freude, weder die Arbeit noch sonst irgendwas. Es herrscht bei ihnen eine große Freudlosigkeit.
Zudem fühlen die Patienten sich müde, erschöpft, schwach, kraftlos. Dieses Leben von Wochenende zu Wochenende oder von Urlaub zu Urlaub kann ein Anzeichen für einen „Burn-on“ sein. Eigentlich drängt alles nach Entspannung.
Die Patienten sind aber permanent angespannt. Zu den körperlichen Spannungssymptomen gehört häufig eine Schlaflosigkeit durch die permanente Anspannung, Verspannungen der Rücken-, Nacken- und Schultermuskulatur bis hin zu Verschiebungen von Wirbeln. Hinzu kommen oft Kopfschmerzen, Tinnitus, auch Bluthochdruck, denn der kann auch verursacht werden durch eine angespannte Gefäß-Muskulatur. Das ist dann natürlich ein Risikofaktor für Herzinfarkte und Schlaganfälle.
Bochumer Experte behandelt Menschen mit Burn-on-Syndrom
Gibt es eine Erklärung dafür, dass diese Menschen trotz der ganzen Anspannungen eben keinen Zusammenbruch erleiden?
Sie haben häufig ein gewisses System etabliert, das sie irgendwie bei Laune und noch bei Kräften hält. Was aber die zunehmende körperliche und seelische Beeinträchtigung nicht aufhält.
Diese Menschen sind eigentlich die perfekten Arbeitnehmer, denn sie gehen immer an ihre Grenzen und leisten unheimlich viel. Sie haben eigentlich allen Grund, sehr stolz auf sich zu sein, haben aber trotzdem das Gefühl, nicht zu genügen. So dass es ihnen letztlich auch an Selbstwertgefühl mangelt.
Was müssen diese Menschen lernen, damit es ihnen besser geht und damit sie sich selbst nicht rücksichtslos ausbeuten?
Wir versuchen ihnen beizubringen: Was bedeutet eigentlich Selbstfürsorge? Welchen Wert messe ich meinen eigenen Bedürfnissen bei, meinen Gefühlen, meinen Wünschen, meinen Träumen? Welche Werte habe ich eigentlich? Wie gehe ich tatsächlich im Alltag mit meinen Werten um? Das sind so ganz wichtige therapeutische Momente und Herangehensweisen.
Es geht also nicht einfach darum, den Akku frisch aufzuladen und wieder weiterzumachen, sondern das Leben grundlegend umzustellen?
Die Patienten müssen am Ende der Behandlung lernen, zeitliche, räumliche und situative Reservate zu schaffen, die für sie reserviert sind, also für die eigene Menschlichkeit und für die Selbstfürsorge. Dazu gehört auch, dass sie nicht gleich wieder arbeiten gehen, wenn sie nach Hause kommen.
Bert te Wildt/Timo Schiele: „Burn On: Immer kurz vorm Burn Out – Das unerkannte Leiden und was dagegen hilft“, Droemer, 304 Seiten, 20 Euro