Münster. Vereinbarungen innerhalb der Familie geben den Kindern Halt und Orientierung. Vorausgesetzt: Auch die Erwachsenen halten sich daran.

„Zieh die Jacke an, draußen ist es kalt.“ „Mir ist aber nicht kalt!“ Und schon beginnt ein wildes Hin und Her in der Familie. „Die Eltern wollen eigentlich nur das Beste, sie machen sich Sorgen um die Gesundheit des Kindes und das Kind möchte selbst entscheiden. Eine ganz typische Situation“, sagt Sozialpädagogin Stefanie Tomberge. Oft ende es mit einem Streit: „Zieh jetzt die Jacke an oder wir gehen nicht raus.“ „Ich will aber raus. Blöde Mama.“ „Wenn Du mich blöde Mama nennst, dann kannst Du direkt in Dein Zimmer gehen und wir machen heute nichts mehr.“

Ob Groß oder Klein: Diesen Ärger möchte doch keiner. Familienregeln können dabei helfen, Streit zu vermeiden, rät die ehemalige Leiterin einer Kita, die heute als Fachberaterin 24 Kindertagesstätten im evangelischen Kirchenkreis Münster betreut. Dabei spricht Tomberge lieber von Vereinbarungen oder Spielregeln: „Wenn es draußen kalt ist, ziehen wir eine Jacke an.“ Oder: „Beim Essen warten wir, bis alle am Tisch fertig sind und stehen erst dann auf.“ Diese Spielregeln geben den Kindern Halt, sie wissen dadurch, wo es langgeht, erfahren Verlässlichkeit, so die Expertin. Das seien alles Dinge, die wichtig für die Entwicklung der Kinder sind.

Sozialpädagogin Stefanie Tomberge ist ehemalige Leiterin einer Kita, die heute als Fachberaterin 24 Kindertagesstätten im evangelischen Kirchenkreis Münster betreut.
Sozialpädagogin Stefanie Tomberge ist ehemalige Leiterin einer Kita, die heute als Fachberaterin 24 Kindertagesstätten im evangelischen Kirchenkreis Münster betreut. © Privat | Privat

Erfolgreich sind solche Spielregeln, wenn Eltern sie nicht einfach einführen, sondern die Kinder bei der Gestaltung mit einbeziehen. „Für Kinder ist nichts frustrierender, als Adultismus zu erleben, also das Ausspielen des Machtverhältnisses zwischen Erwachsenem und Kind“, sagt die 50-Jährige. „Kinder lernen besonders gut, wenn sie einbezogen werden, wenn wir sie dabei begleiten, sich selbst wahr- und ernstzunehmen.“

Kinder möchten mitdenken

Weil sie mitdenken dürfen, erkennen Kinder den Sinn einer Spielregel, sie sind dazu bereit, diese zu verinnerlichen und zu achten. „Die Selbstwirksamkeit wird dann gefördert, weil das Kind merkt, ich kann auch etwas dazu beitragen, dass es gut läuft.“

Jede Familie kann ihre eigenen Spielregeln aufstellen. Müssen bei uns alle beim Abendessen sitzenbleiben, bis der letzte fertig ist? Oder ist es erlaubt, auf dem Stuhl zu knien oder zu hocken? Oder müssen wir gerade am Tisch sitzen? Tomberge: „Wir sind heute frei, unsere eigene Familienkultur zu entwickeln, nicht nur beim Essen.“

Wünsche positiv formulieren

Dabei empfiehlt sie, in kleinen Schritten vorzugehen und seine Wünsche positiv zu formulieren: „Wir sprechen freundlich miteinander“ wird viel lieber befolgt als „Wir schreien uns nicht an“. Tomberge berichtet aus ihrer Zeit, als sie selbst eine Kindertageseinrichtung geleitet hat, da forderte das Team zunächst die Kleinen auf: „Rennt nicht über den Flur!“ Und zack, die Kinder rannten los. „Wir haben uns dann irgendwann geeinigt zu sagen ,Lauft langsam über den Flur, es ist rutschig’. Eine ganz andere, richtungsweisende Botschaft, die den Kindern Orientierung bietet. Und sie war erfolgreich.“

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Tomberge rät Eltern dazu, Vereinbarungen in einer entspannten Situation zu treffen, also nicht kurz vor dem Ins-Bett-Gehen, sondern vielleicht am Wochenende, wo alle Zeit für ein Gespräch haben. „Und gemeinsam nachher noch was kochen können oder einen Spaziergang machen.“ Schön ist es auch, wenn die Kinder die Spielregeln visualisieren. Das könnten bereits Mädchen und Jungen, die noch nicht Lesen und Schreiben können. Da wird der Wunsch „Wir sind freundlich zueinander“ zum Beispiel mit lachenden Gesichtern auf Papier verewigt. Die Erwachsenen müssen die Zeichnungen nicht unbedingt erkennen, die Kinder waren beim Gestalten der Regeln dabei und erinnern sich daran, wenn sie ihr selbst gemaltes Regel-Bild sehen.

Regeln statt Streit

Sobald Familien Unstimmigkeiten erkennen, sollten sie aktiv werden. „Wichtig ist, dass man Reibungsflächen beobachtet, genau miteinander möglichst sachlich die Situation beschreibt und dann gemeinsam überlegt, was wie geändert werden kann, damit es allen besser geht.“ Entsprechend können dann Regeln formuliert werden, aber möglichst nicht mehr als drei. „Wenn diese funktionieren, können Neue abgesprochen werden. Aber oft reichen schon drei Regeln, die von allen eingehalten werden, eine Wandlung in das Familienleben zu bringen und die anderen Herausforderungen lösen sich auf.“ Weil Kinder spürten, dass sie ernstgenommen und beteiligt werden.

Kurze statt komplizierte Regeln

Und wenn es dann doch nicht klappt? Dann sollte man wieder gemeinsam darauf schauen, warum es nicht funktioniert: „Ist die Regel vielleicht nicht richtungsweisend? Verlangt sie zu viel von den Beteiligten? War es doch nicht gemeinsam entschieden worden? Oder ist die Regel zu kompliziert formuliert? Kurz und knackig ist gut.“

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Wichtig: Die Spielregeln gelten nicht nur für die Kinder. Tomberge erinnert sich an ein Beispiel aus einer Kita: Alle Mädchen und Jungen trugen Hausschuhe – das forderte eine Spielregel. Die Erwachsenen behielten jedoch ihre Straßenschuhe an. Das fanden die Kinder ungerecht. Warum sollte die Vereinbarung nur für sie gelten? Die Erwachsenen hörten auf sie – und die Kinder spürten, dass sie etwas bewegen konnten.

Ab welchem Alter kann man welche Regel einführen? Das mag Tomberge nicht pauschal beantworten: „Welche Regeln für welches Alter eingeführt werden sollen, liegt an dem Entwicklungsstand des Kindes und dem Spannungsfeld in der Familie.“ Aber im Grunde könne man mit Kindern über Regeln sprechen, wenn sie zwei Jahre alt sind. „Da beginnt ja die Autonomiephase, da wollen sie alles selber machen.“ Da sollte man mit den Kindern klären, was sie selber machen können und wo Hilfe der Eltern noch nötig ist. Kinder seien da individuell verschieden. Man müsse schon genau hingucken, ob ein gemeinsames Formulieren der Regeln ein Kind womöglich überfordert. „Aber wenn das Kind sehr eigensinnig ist, sollte man das zulassen.“

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Eltern wird von Experten empfohlen, in der Erziehung konsequent zu sein. Doch Tomberge sagt: „Die Ausnahme bestätigt die Regel.“ Man darf von Vereinbarungen auch mal abweichen, wenn man es erklärt: „Ja, wir haben diese Regel, aber heute ist es mal anders, es ist ein besonderes Fest.“ Und dann gibt es auch schon mal Süßes vor dem Mittagessen.

Keine Diskussion über das Zähneputzen

Bei manchen Dingen gibt es allerdings keine zwei Meinungen, etwa das Zähneputzen vor dem Schlafengehen. Für Kinder ist die Warnung der Eltern zu abstrakt: „Putz dir die Zähne, sonst bekommst Du Karies.“ Tomberge rät unterstützend zu Bilderbüchern, die das Thema kindgerecht vermitteln. „Ich könnte mir auch vorstellen, dass man sagt: ,Als Erwachsener weiß ich das – und ich bin auch dafür da, auf deine Gesundheit zu achten.’“

Wenn Spielregeln schließlich eingehalten werden, sollten sie nicht als selbstverständlich betrachtet werden. „Feiern Sie Ihre Erfolge, auch wenn Sie noch so klein sind“, fordert Stefanie Tomberge auf – und meint das wörtlich. Denn auch eine kleine Feier erhöht die Motivation, gemeinsamen Spielregeln zu folgen und friedlich zusammenzuleben. „Es ist toll, dass das so schön klappt, jetzt gehen wir mal ein Eis essen!“