Witten. Viele Eltern brauchen eine Auszeit. Eine fünfköpfige Familie aus Witten erzählt, wie sie ihre Batterien in einer Kur wieder aufgeladen hat.

Auf die Frage, was sich nach der Kur mit den Kindern verändert hat, überlegen Dominika und Tim eine Weile. Dann sagt die 38-Jährige: „Wir haben es geschafft, wieder bestimmte Strukturen in den Alltag einzupflegen. Vorher war immer viel Hektik, waren immer viele Aufgaben zu erledigen. Jetzt sitzen wir auch mal wieder zusammen und genießen die gemeinsame Zeit.“

Tim fügt hinzu: „Wir haben als Familie und als Paar wieder zueinander gefunden. Es läuft jetzt wieder geregelter ab“, so der 42-Jährige. „Und man nimmt sich auch mal die empfohlenen fünf Minuten Pause.“

Der Vater arbeitet im Schichtdienst als Materialwirtschafter bei der Deutschen Bahn. Die Mutter ist Erzieherin. Dazu kommen drei Kinder: Adrian und Paul (beide 7) sowie Emilia (10). Seit gut sechs Wochen sind die Wittener zurück aus ihrer Eltern-Kind-Kur: Drei Wochen verbrachten sie auf der Ostseeinsel Usedom, gemeinsam in einer Kur-Klinik. Drei Wochen wurden sie bekocht und aktiv entspannt: täglicher Sport, Kinderbetreuung bis in den Nachmittag, ausgedehnte Strandspaziergänge. Dazu kamen Vorträge über Kindererziehung und Stressbewältigung sowie Beratungsgespräche.

Mehr Nähe und Vertrauen

„Eigentlich haben wir in letzter Zeit nur noch aneinander vorbeigelebt“, erzählen die Eltern. „Waren beide schlimm überarbeitet, haben uns nur noch die Klinke in die Hand gegeben und hatten eine ganz schreckliche Kommunikation miteinander. Die Kur war eine Möglichkeit, aus unserem Chaos-Leben herausgezogen zu werden, der Hektik zu entfliehen.“ Und das habe sogar besser geklappt als erhofft, erklärt Dominika. „Ich habe es geschafft, eine bessere Bindung zu den Kindern aufzubauen“, sagt Tim strahlend. Er fühlt sich ihnen nun wieder näher und vertrauter.

Zeit zu fünft: Vater Tim fühlt sich seinen Kindern wieder näher.
Zeit zu fünft: Vater Tim fühlt sich seinen Kindern wieder näher. © FUNKE Foto Services | Jakob Studnar

Warum Mütter und auch immer mehr Väter in Kur fahren, kann verschiedene Gründe haben: Zu den wichtigsten zählen Rückenschmerzen, Erschöpfungszustände, Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychische Beeinträchtigungen und, relativ neu, auch Bluthochdruck. Dabei sei der Begriff Kur eigentlich veraltet, erklärt Claudia Kirsch. Die 30-Jährige ist wissenschaftliche Leiterin des Forschungsverbundes Familiengesundheit an der Medizinischen Hochschule Hannover. In Zusammenarbeit mit über 30 Kurkliniken konzipiert sie das, was lieber als „Vorsorge- und Rehabilitationsmaßnahmen für Mütter und Väter“ bezeichnet wird. Der Verbund schaut auch auf die Qualität und die Effektivität der Maßnahmen.

Vor allem Mütter sind psychisch belastet

Kirsch sagt: „Vor allem Mütter sind psychisch immer belasteter. Durch Corona hat sich das weiter verstärkt und äußert sich in Ängsten, Parental Burn Out und Stresssymptomen.“ Noch habe man keine belastbaren Daten darüber, aber das sei das, was aus den Kliniken rückgemeldet werde. Zurzeit gebe es auf jeden Fall eine größere Nachfrage als Plätze.

Viele Kliniken seien bereits bis weit ins nächste Jahr ausgebucht. Dabei zeigen die Zahlen: Die Vorsorge-Maßnahmen nehmen in den vergangenen zehn Jahren deutlich zu, die Rehabilitation-Maßnahmen deutlich ab. Während 2008 noch 95.055 Vorsorgen von den Krankenkassen genehmigt wurden, waren es 2019 schließlich 139.269. Bei den Rehas waren es 2008: 15.439. 2019 nur noch 1899. „Ich habe die Vermutung, dass es immer schwerer wird, die Reha-Maßnahmen genehmigt zu bekommen. Und wer eigentlich eine Reha braucht, aber lediglich eine Vorsorge genehmigt bekommt, hat natürlich wenig davon.“

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Trotzdem belegen Studien, die jüngsten Befragungen durchgeführt in den Jahren 2018/19 unter 974 Müttern, 54 Vätern und 1244 Kindern, einen Nutzen: Sie bezeugen eine deutlich geringere Medikamenteneinnahme bei den Teilnehmenden bis zu neun Monate nach der Maßnahme, eine höhere Inanspruchnahme von psychischen Therapien, weniger Angstzustände oder depressive Verstimmungen, weniger Rückenschmerzen und eine deutlich verbesserte Erziehungskompetenz. „Durch die Maßnahmen ergeben sich viele Effekte“, sagt Kirsch, „bei vielen hat sich die Lebensqualität verbessert. Nach etwa neun Monaten gehen die Effekte wieder runter, bleiben aber trotzdem höher als zuvor.“ Alle vier Jahre dürfen Eltern eine solche Maßnahme bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse beantragen. Kirsch plädiert für einen Zwei-Jahres-Rhythmus. Und dafür, eine gewisse Kur-Nachsorge zu betreiben.

Das würden sich auch Dominika und Tim wünschen. Die Zeit habe ihnen sehr gutgetan, aber es sei nicht leicht, die Anregungen umzusetzen, zur Entspannung oder auch zum Sortieren der Termine, damit sie sich nicht zu viel vornehmen. Dominika: „Das echte Leben ist eben keine Eltern-Kind-Kur.“