Witten. Die Wittener Künstlerinnen Christel und Laura Lechner formen „Alltagsmenschen“ aus Beton. Die Begegnung mit ihren Skulpturen ist verblüffend.
Sie sind weder Helden noch Stars. Keine Models und auch keine Schönlinge: „Wir nennen sie ganz einfach Alltagsmenschen“, sagen die beiden Wittener Künstlerinnen Christel und Laura Lechner. Doch gerade in ihrer porträtierten Normalität strahlen diese zumeist vollschlanken Beton-Bürger eine ganz besondere Würde und eine unmittelbare Freundlichkeit aus.
Mutter und Tochter arbeiten Hand in Hand
Vor mehr als 25 Jahren hat Christel Lechner ihren ersten Alltagsmenschen zum kunstvollen Leben erweckt; fünf Jahre später stellte sie bereits eine größere Gruppe von ihnen in ihrer Geburtsstadt Iserlohn aus. Die nächste Präsentation folgte dann in Witten, seit Jahrzehnten die Wahlheimat der heute 74-Jährigen. Mit Tochter Laura (49) kam 2004 die zweite tragende Kunstsäule in die Welt der Alltagsmenschen dazu. Während Christel Lechner als Keramikerin mit Meistertitel ausgebildet ist, hat Laura Lechner an den Kunstakademien in Saarbrücken und Münster Malerei und Bildhauerei studiert. Das Mutter-Tochter-Verhältnis bezeichnen beide als „einzigartige Symbiose“ und meinen dabei das Berufliche gerade so wie das Private. Schwiegersohn Jan Illerhues (40) ergänzt inzwischen das kreative Duo mit der sinnvollen Komponente als studierter Betriebswirt.
Auch interessant
300 vollschlanke Männer und Frauen
Wer das Lechner-Atelier in Witten besucht, wird von der ländlichen Idylle im Nu verzaubert. Ein paar Alltagsmenschen grüßen unaufdringlich schweigend den Herankommenden oder sitzen entspannt auf einer Bank am uralten Fachwerkhaus. Im benachbarten, lichtdurchfluteten Atelier vervollständigen einige wenige Mitarbeiter derweil den Schaffensprozess an immer neuen Alltagsmenschen.
Etwa 300 vollschlanke Männer und Frauen sind im Laufe der Jahre dieser Kreativ-Werkstatt buchstäblich in die weite Welt entschlüpft. 90 von ihnen haben für immer eine neue Heimat im ostwestfälischen Wiedenbrück gefunden. Eine rührige Stiftung dort möchte ihre Zahl in Zukunft auf 100 erhöhen; weiß man doch nur zu gut um den touristischen Mehrwert, den die Lechner-Figuren gebracht haben und noch immer bringen. Auf Straßen und Plätzen, in Parks, an Uferböschungen, vor der Kirche oder neben dem Restaurant trifft man hier zwischen April und September auf die beton-gewordenen Alltagsmenschen.
Auch interessant
Mit Durchschnittlichkeit zum Erfolg
Das Geheimnis ihres regelrecht grenzenlosen Erfolgs liegt, ebenso verblüffend wie dann doch nachvollziehbar, in der vollkommenen Durchschnittlichkeit ihres Auftretens. Sie scheinen förmlich in sich zu ruhen, wirken auf den Betrachter entspannt – und entspannen diesen wiederum auch. „Wir schaffen mit unseren Arbeiten eine künstlerische Inszenierung des Alltäglichen“, sagt Laura Lechner und weiß sich damit einmal mehr ganz in der Meinung und Zielsetzung ihrer Mutter einig. Ob in Berlin oder Bochum, Köln, Straßburg, Kaiserslautern oder auf Sylt: Die Alltagsmenschen sorgen immer und überall für helle Freude und ein überraschtes Schmunzeln. Zur Zeit „gastieren“ die Alltagsmenschen in Nordkirchen, Meppen, Koblenz und auf Sylt; in Wiedenbrück und auf Sylt bilden sie im Sommerhalbjahr die einzige wiederkehrende Dauerausstellung.
Dass die Beton-Menschen im öffentlichen Raum stehen, fotografiert und betastet werden dürfen (und ausdrücklich sollen!), macht sie natürlich auch im wahrsten Sinne des Wortes verletzlich. Doch es ist wohl ihre zutiefst friedvolle Ausstrahlung, die möglichen Vandalismus in aller Regel bereits im Keim erstickt. Zudem wiegt ein Alltagsmensch der Marke Lechner gut 80 bis 150 Kilo und verlässt daher nur sehr widerwillig seine von den beiden Künstlerinnen angestammte Haltung und Position.
Momente der inneren Zufriedenheit
„Wir wollen mit unseren Skulpturen mitten in den Städten und Orten einerseits die Schwellenangst vor der vermeintlich hehren Kunst senken, zum anderen geht es uns aber vor allem darum, den Betrachtern Momente der inneren Zufriedenheit zu spiegeln“, sagt Christel Lechner. Ihre Alltagsmenschen seien deshalb „nicht in einer bestimmten Bewegung erstarrt“, sondern sie sind aus einem völlig natürlichen Augenblick herausgenommen. Das jeweilige urbane oder auch ländliche Umfeld, in das sie gestellt, gesetzt oder auch gelegt werden, spielt dazu eine wichtige Rolle. Erst im Gesamtzusammenhang erschließt sich dadurch die eigentliche Komposition und bietet sich die nahe liegende Interpretation der jeweiligen Szene und Situation an: Menschen auf dem Weg zum Einkaufen, beim Spazierengehen, beim Sonnenbaden, am Kaffeetisch, auf der Ruhebank, in kleinen oder größeren Gruppen, als Männerchor, Schützenbruderschaft oder als Nonnen-Gemeinschaft – Lechners Alltagsmenschen sind so vielfältig und facettenreich wie das Leben eben selbst.
Auch interessant
Sympathieträger aber sind sie alle. Ein paar Kilo zu viel auf den mit mineralischen Farben sorgsam bemalten Beton-Rippen haben sie auch alle. Nicht wirklich fett, aber eben doch vom Alter gezeichnet und mit den entsprechenden Lebensringen fürsorglich versehen. Es sei nun einmal nicht weniger als „die menschlichste Form der Schönheit“, befindet Christel Lechner und benennt „Momente des Glücks und der Muße“ als wesentliche Merkmale ihrer Skulptur-Charaktere.
Eine Figur zu schaffen, kann ein Jahr dauern
Wer allerdings glaubt, die heiter-beschwingte Kunst sei das Ergebnis ebensolcher Vorarbeit, irrt sicht gewaltig. Es dauert Monate, bis hin zu einem Jahr, ehe ein typischer Lechner-Typ von der Idee bis zum fertigen Beton-Subjekt heranreift. Anatomische Studien gehen erste Skizzen und Zeichnungen voraus, denen dann wiederum kleine Modelle folgen, bevor der nächste Schritt hin zum Beton und schließlich zur farbigen Gestaltung folgt. Die Erfahrung von Jahrzehnten erst macht die Alltagsmenschen zu den Erfolgsmenschen, die sie inzwischen sind. Und die unbedingte Liebe zum Beruf, der hier natürlich im Lechner-Atelier nicht weniger als eine leidenschaftliche Berufung ist, krönt das künstlerische Schaffen wundervoll in und zur Gänze.
Aktuelle Ausstellungen der Alltagsmenschen von Christel und Laura Lechner: - Koblenz, bis 5. Juli 2022 / Nordkirchen, bis 16. Oktober / Meppen, Juli bis Oktober / Wiedenbrück, bis 18. September / Sylt (Wenningstedt), bis Oktober
Dies ist ein Artikel aus der Digitalen Sonntagszeitung. Die Digitale Sonntagszeitung ist für alle Zeitungsabonnenten kostenfrei.Hier können Sie sich freischalten lassen.Sie sind noch kein Abonnent?Hier geht es zu unseren Angeboten.