Duisburg. Manu Sass führt Menschen in den Wald, damit sie dort unter dem Blätterdach entspannen – in der Hängematte oder bei Tee aus Fichtennadeln.

Augen zu – und die anderen Sinne springen an. Das Gezwitscher des Rotkehlchens klingt auf einmal lauter. Auch das Rascheln und den Duft des Laubs unter meinen Schuhen nehme ich nun wahr. „Alles frei“, sagt Manuela „Manu“ Sass aufmunternd. Trotzdem setze ich mit geschlossenen Augen noch zögerlich einen Fuß vor den anderen, während sie mich mit ihrer Hand an meinem Ellbogen tiefer in den Wald führt.

Schon als Kind liebte die kleine Manu den Duisburger Wald. Die große Manu hat ihn als wohltuenden Ort wiederentdeckt. Die Gästeführerin bietet dort für Gruppen Entdeckertouren an oder auch das aus Japan bekannte „Waldbaden“, das dort ShinrinYoku heißt. „Dafür braucht man keinen Badeanzug“, sagt die 49-Jährige lächelnd. Es geht darum, in die grüne Atmosphäre einzutauchen. Und sich so zu entspannen, „seine Widerstandskräfte zu stärken“.

Im Wald vergisst sie Sorgen: Manu Sass zeigt ihren Gästen, wie das am besten geht.
Im Wald vergisst sie Sorgen: Manu Sass zeigt ihren Gästen, wie das am besten geht. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Manu Sass führt mich weiter über knackende Zweige und weiches Moos. Zuvor hatte sie mich mal nach links gedreht, mal nach rechts – ich habe mit geschlossenen Augen die Orientierung verloren, wo wir vom Weg abgekommen sind. Manu Sass stoppt – vor meiner Nasenspitze steht ein Baum. Das Wald-Memory kann beginnen: Mit meinen Händen taste ich die Rinde ab. Meine Aufgabe: Ich soll genau diesen Baum später wiederfinden.

Die Sinne schärfen

Bei Anfängern geht es der Achtsamkeitstrainerin erst mal darum, die Sinne zu schärfen. Vielleicht kennen sie den Wald vom Spaziergang mit dem Hund. „Aber dann achten sie nur auf den Hund.“ Und vielleicht noch auf den einen Baum, an dem der Racker sein Beinchen hebt. Unterhält man sich dann noch, verwandelt sich der Wald in eine einzige grüne Masse. Kein Blick fürs Detail.

Ich taste die Rinde ab. Glatt ist sie, an manchen Stellen spüre ich kleine Erhebungen, wie die Muttermale auf einer Haut. Ich entdecke ein frisches Blatt, es ist ganz weich. Weiter unten am Stamm ist die Rinde rissig und rau. Daran werde ich ihn mit geöffneten Augen bestimmt wiedererkennen. Später wird mir Manu Sass zeigen, wie sie selbst den Baum abtastet. Dann macht sie sich nicht nur lang und klein, sie geht in die Hocke, um die Wurzeln zu ertasten. „Die sind bei jedem Baum anders.“

Baum ist eben nicht gleich Baum

Obwohl hier Buche an Buche steht: Baum ist eben nicht gleich Baum. Manu Sass geht es nicht nur darum, die Welt bewusster wahrzunehmen, sondern auch den Respekt vor der Natur zu erhöhen: „In die eigene Haut würde man ja auch kein Herz ritzen.“

„Ich trinke keinen Weihnachtsbaum“, meinen manche Kinder, wenn Manu Sass den Tee aus Fichtennadeln aufbrüht. Am Ende genießen sie dann doch das duftende Getränk.
„Ich trinke keinen Weihnachtsbaum“, meinen manche Kinder, wenn Manu Sass den Tee aus Fichtennadeln aufbrüht. Am Ende genießen sie dann doch das duftende Getränk. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Sie pflückt Brennnesseln – mit Einmalhandschuhen. Mit einer Lupe betrachtet sie die Härchen an der Blattunterseite. Erinnerungen an „verbrannte“ Kinderbeine werden wach und man mag ihr nicht recht glauben, wenn sie sagt: „Gleich essen wir Brennnessel.“

Auf einer Lichtung packt sie die Blätter aus, die sie zuhause mit einem Nudelholz bearbeitet und in Pfannkuchenteig ausgebacken hat. Das schmeckt! Nebenbei erzählt sie, wie Bäume „trinken und essen“. Und wie sie sich mit Bitterstoffen in den Blättern vor Fressfeinden schützen. Dann bereitet sie einen duftenden Tee aus Fichtennadeln zu – aus dem Bioversand. Kinder beschwerten sich schon mal: „Ich trinke keinen Weihnachtsbaum.“ Das tun sie dann aber doch.

Kraut mit Knobigeschmack

Am Anfang des Weges hatte Manu Sass gesagt: „Momentan sprießt dieses Kraut wie verrückt“, und auf die Knoblauchsrauke mit den weißen Blüten gezeigt. Nun legt sie die gesammelten Blätter auf ein Butterbrot. Es erinnert, wie der Name schon verrät, leicht an Knoblauch. Die Rauke sei gesünder als Brokkoli – Sass hat sich in Kräuterkunde weitergebildet.

Eigentlich ist Manu Sass Innenarchitektin. Lange Zeit hat sie für eine Modekette die Geschäfte eingerichtet – und jeden Tag viele Stunden am Computer gesessen. „Und das soll ich noch 20 Jahre bis zur Rente machen? Ich will nicht nur am Schreibtisch sitzen.“ Und so machte sie sich auf, als Wanderführerin und Reiseleiterin. Die Pandemie hat sie ausgebremst. Aber sie nutzte die Zeit für die Ausbildung. An der Akademie für Waldbaden – für Erwachsene und für Kinder. Und gerade hat sie eine Fortbildung bei der Waldakademie des Försters und Bestsellerautors Peter Wohlleben besucht.

Sieht mit den weißen Blüten nicht nur hübsch aus, schmeckt auch gut: die Knoblauchsrauke.
Sieht mit den weißen Blüten nicht nur hübsch aus, schmeckt auch gut: die Knoblauchsrauke. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Zum Baum-Umarmen regt Manu Sass auch an, aber nur bei fortgeschrittenen Waldentdeckern. Viele würden denken, es sei irgendetwas Spirituelles, ein Hokuspokus. Ich probiere es und suche mir dafür einen sehr großen Baum aus. Der Stamm ist so dick, den könnte ich gar nicht umarmen. Daher lehne ich mich nur an. Es ist ein schönes Gefühl zu spüren, dass diese uralte Buche mich hält. Ich blicke hinauf zu ihrem schützenden Blätterdach, durch das die Sonne blitzt.

Lichtspiel und Blätterrauschen

Für diesen besonderen Blick hat Manu Sass in ihrem großen Rucksack auch immer mindestens eine Hängematte dabei. Schnell hat sie Seile an zwei nahestehende Bäume gebunden und dazwischen den Stoff einladend aufgehängt. Sie legt sich hinein und schaut nach oben, bewundert das Lichtspiel und das Rauschen der Blätter: „Das ist Baumkino vom Feinsten.“ Und eine gute Möglichkeit, aus dem Gedankenkarussell auszusteigen.

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Manu Sass hat mich zurück auf die Lichtung geführt. Nachdem sie mich wieder nach links und nach rechts gedreht hat. Ich habe keine Ahnung, welcher Baum meiner ist. Auf den ersten Blick sehen sie doch alle gleich aus. Also taste ich die Stämme ab: zu rau, zu schief gewachsen, da fehlen die „Muttermale“. Das ist ja schwerer als richtiges Memory! Also weiter schauen und vor allem tasten. Schließlich stelle ich erfreut fest: Da sind die kleinen Erhebungen, die raue Stelle. Ich bin mir sicher: Das ist mein Baum!

Wo wollten Sie schon immer mal hin, haben es aber bis heute noch nicht geschafft?
Manu Sass: Ich möchte gerne in die Antarktis, solange es da noch Eis gibt. Ich war schon in Uganda bei den Gorillas und habe in der Wüste geschlafen, aber dieser Naturraum ist mir noch fremd. Und in der Region? Zu den Bruchhauser Steinen im Sauerland, wo im Wald diese riesigen Felsbrocken liegen.

Gruppen: 30 € p. P., 3 Stunden. Mo. und Fr. oft offene Angebote. Individuelle Absprachen: 0172/31 07 773; manu-to-go.de