Gelsenkirchen/Gladbeck. Der Verein „Tierische Seminare“ bietet pferdegestützte Therapie für Kinder an. Sie leiden auch unter Folgen von Lockdown und Isolation.

Nicolas nimmt ein bisschen Heu zwischen seine kleinen Finger. Ganz ruhig läuft er zu „Mary Poppins“, reicht ihr die paar Halme. Die schwarze Ponydame nimmt das Leckerchen gern an. Eine Szene, die fast alltäglich erscheint. Ist sie aber nicht. Der kleine Mann beweist damit großen Mut. In seinem besonderen Fall noch mehr. Der Fünfjährige ist in seiner Entwicklung verzögert. Seit anderthalb Jahren besucht er die pferdegestützte Therapie des Gelsenkirchener Vereins „Tierische Seminare“ mit Stallungen am Stadtrand von Gladbeck.

„Kinder brauchen Kinder“

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Rund einhundert Kinder werden hier derzeit begleitet, in Einzelterminen oder Gruppenstunden. Sie alle kommen aus prekären Lebenssituationen, erzählt Christian Krause, der Vereinsvorsitzende. Das sei auch vor Corona so gewesen. Nun jedoch gebe es keinen mehr, der nicht zusätzlich unter den Folgen der Lockdowns und der Isolation leide. „Sie waren schon vor der Pandemie bildungsschwach oder kommen aus finanziell angespannten Verhältnissen. Andere wiederum haben Unterstützungsbedarf. Viele haben auch Traumatisches erlebt, besonders in der Pandemie.“ Etwa einen Todesfall, bei dem man, der Auflagen wegen, nicht Abschied nehmen und keine Trauerarbeit leisten konnte.

Was es auch ist, die Coronazeit habe besonders für junge Menschen alle Probleme verschlimmert. „Für Kinder hatte diese Zeit dramatische Folgen.“ Jene gilt es nun gemeinsam aufzuarbeiten.

„Kinder brauchen Kinder, die sie anfassen können und mit denen sie ihre kindgerechten Spiele spielen können“, sagt der Pädagoge, der stets mit einem richtig guten tierischen Helfer arbeitet. „Das Pony baut eine Brücke. Wir erleben oft, dass die Kinder ihre Probleme nicht aussprechen wollen. Aber dem Pony erzählen sie ihre Sorgen.“

Zum ersten Mal das Pony von vorn gestreichelt

Gleichgewichtsübung im Sattel: Nicolas wählt Farbtafeln aus und klebt sie an eine Wand.
Gleichgewichtsübung im Sattel: Nicolas wählt Farbtafeln aus und klebt sie an eine Wand. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Noch einmal beweist Nicolas Mut: Trainerin Diana Kussmann hält „Mary Poppins“ Huf. Der Junge kratzt ihn aus, kriecht dafür unbekümmert unter das Pferdchen. Mama Sandra Wartenberg beobachtet das mit etwas Abstand – und ist immer wieder berührt. „Beim vorletzten Mal hat er sich erstmals getraut, das Pony von vorne zu streicheln und es zu füttern. Das war so ein Moment, da hatte ich Pipi in den Augen.“

Seit Jahren schon kennt sie Christian Krause, weiß von seinem Projekt. Nach dem ersten Lockdown denkt die Familie darüber nach, ob diese Therapie Nicolas helfen könnte. Zu schwer war der Eingriff in das Leben des kleinen Mannes, ohne die gewohnten Strukturen, ohne Freunde, ohne gemeinsame Spiele. Es kommt zu einer ersten Begegnung zwischen der Familie und Pony „Sonja“. Für Nicolas ist die Herausforderung groß: Die Nähe zum Tier, das Sitzen auf dem Pferderücken. „Wir hatten vorher mit Pferden überhaupt nichts am Hut“, sagt Papa Sascha Wartenberg. „Aber man wächst da rein. Auch als Eltern.“ So sieht es auch die Mutter: „Es war für mich ein Lernprozess im Hinblick auf das Loslassen.“ Nicolas kann nämlich – wie jedes Kind – nur Selbstbewusstsein entwickeln, wenn er eigene Erfahrungen macht, kleine Herausforderungen meistert.

Nicolas thront freudig auf dem Ponyrücken. „Los!“, ruft er aus. Und es geht los. Im Schritt und von der Trainerin geführt reitet er eine Runde. Heiter spricht er mit Diana Kussmann und „Mary Poppins“. Auch das ist eine tolle Entwicklung. Nach dem zweiten Lockdown, erzählt die Mama derweil, sei es Nicolas so schlecht gegangen, dass er kaum noch gesprochen habe. „Viele Therapiestunden fanden nicht statt, Kontakt zu Gleichgesinnten gab es nicht. Durch seine Entwicklungsverzögerung muss er jeden Tag mit Kindern sprechen.“ Den normalen Alltag braucht der Fünfjährige als spielerische Förderung. Das verbindet ihn mit vielen anderen Kindern.

Eine Eselwanderung war entspannender als zwei Wochen Urlaub

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Ein Rückblick: Im Jahr 2015 gründet Christian Krause aus Gelsenkirchen seinen Verein „Tierische Seminare“. Ganz bewusst will er Kindern aus der Region helfen – und das in seiner Freizeit. Im Hauptberuf ist der Pädagoge in der Berufsbildung in der Metallbranche im Einsatz. Wie gut die Zeit mit einem Tier tut, das erlebt er zunächst am eigenen Leib: „Ich war auf einer Eselwanderung und am Anfang ganz enttäuscht, dass man auf den Tieren nicht reiten konnte. Aber nach nur zwanzig Minuten wandern war ich so entspannt, wie nach zwei Wochen Urlaub nicht.“

Die Idee zur pferdegestützten Therapie ist geboren. Der Pferdenarr schafft sich eigene Tiere an. Eine Traumatherapeutin bittet Christian Krause um Hilfe, wünscht sich, dass vier arabische Mädchen mal einen schönen Tag auf dem Reiterhof verbringen. Sie werden die ersten Klientinnen.

Heute arbeiten 30 Menschen mit, rund die Hälfte auch an Kind und Pferd. Alle sind sie fachspezifisch ausgebildet, sind Erzieher, Sozialpädagogen, Sozialarbeiter oder Krankenpfleger, haben zudem zahlreiche Zusatzausbildungen und lassen sich regelmäßig schulen. Das Besondere: Sie alle arbeiten ehrenamtlich. Damit sich wirklich jeder, der sie dringend benötigt, die Therapie auch leisten kann. Wer kann, zahlt einen kleinen Obolus. Zusätzliche Angebote wie Trekkingausflüge mit Pferden und allen Kindern, die dazu Lust haben, helfen, die Kosten zu decken für Futter und Unterbringung der Tiere. Spenden tragen ebenso dazu bei.

Körper und Geist verbinden

Nicolas und „Mary Poppins“ sind nun in der Reithalle. Während das einfühlsame Pony ruhig im Kreis läuft, sitzt der Junge auf seinem Rücken, die Hände cool in die Taschen seiner Weste gesteckt. Damit aber ist jetzt Schluss. Nicolas soll Farbtafeln, die er zuvor auswählt und bezeichnet, an die Wände kleben – vom Pferderücken aus. Jetzt verbinden sich Körper und Geist, trainiert der Junge sein Gleichgewicht, sein Sprachzentrum, seine Farberkennung. Und dennoch wirkt alles wie ein Spiel. Eines, auf das Nicolas bald schon keine Lust mehr hat. Er fühlt sich beobachtet durch die Gäste, mag nicht mehr fotografiert werden.

Kein Problem. Denn für heute ist viel geschafft. Nun geht es zurück. Anfang und Ende jeder Stunde sind ritualisiert. Zu Beginn wird das Pferd geputzt, nun wird es abgesattelt, in die Box gebracht und gefüttert. „Egal, was in der Stunde gemacht wird, diese Rituale sind immer gleich“, erklärt Christian Krause. „Das ist für Kinder ganz wichtig. Rituale geben ihnen Sicherheit und Halt.“ Auch das helfe, die Schatten der langen Zeit der Pandemie zu vertreiben.

>>>Die Infos zur Therapie

Auch wenn die Arbeit des Vereins „Tierische Seminare“ noch nicht überall bekannt ist, in der Fachwelt sei sie es, erzählt Christian Krause. Partner wie Kindergärten oder die Caritas vermitteln Kinder an den Verein. Daher gebe es für angehende Klienten mittlerweile auch eine Warteliste. Denn unerschöpflich sind die zeitlichen Möglichkeiten der ehrenamtlichen Trainer nicht.

Einen Überblick über das Angebot des Vereins gibt es im Internet unter tierische-seminare.de. Hier finden Interessierte auch Informationen zu den Trekkingtouren für Familien, deren Erlös die Vereinsarbeit unterstützt.