Mülheim. Es gibt immer mehr Online-Therapie. Oliver Kunz, Psychologischer Psychotherapeut aus Mülheim, kennt die Vorteile – und hat trotzdem Zweifel.

Mit einem Kaffee aufs Sofa setzen, Laptop aufklappen und kurze Zeit später erscheint der Therapeut oder die Therapeutin auf dem Bildschirm. Die Online-Hilfe scheint für einige Menschen eine kleinere Hürde zu sein als der Weg in die Praxis. Doch diese Form der Therapie hat ihre Tücken, wie Oliver Kunz weiß. Der Psychologische Psychotherapeut aus Mülheim hat während der Pandemie die Vorzüge der Online-Behandlung kennengelernt – aber auch deren Grenzen.

Vor Corona durften die Therapeuten 20 Prozent ihrer Arbeit online durchführen, wegen der Pandemie hat die kassenärztliche Bundesvereinigung diese Beschränkung zunächst aufgehoben, so der 52-Jährige, der Vorstandsmitglied bei der Psychotherapeutenkammer NRW ist. Auch er hat angefangen, online zu therapieren, weil Patienten in Quarantäne waren oder sich aus Angst vor Ansteckung nicht in die Praxis trauten. Kunz machte aus der Not eine Tugend: „Ich habe eine Patientin, die ist zum Ende der Therapie umgezogen, mit ihr habe ich eine Online-Behandlung gemacht, das war einfach gut.“ Wenn er die Patienten kenne, schätze er die räumliche Flexibilität. Sie sei ideal für Menschen, die unter der Woche in einer anderen Stadt sind, auf Montage, an der Uni.

Oliver Kunz, Psychologischer Psychotherapeut aus Mülheim.
Oliver Kunz, Psychologischer Psychotherapeut aus Mülheim. © Handout | Ho

„Es gibt viele Menschen, die sich sehr schwertun, therapeutische Hilfe zu suchen und die auch erst lange Zeit vergehen lassen, bis sie sich wirklich melden bei einer Therapeutin oder einem Therapeuten“, sagt Kunz. Für solche Menschen könne es leichter sein, zu Hause am Rechner zu bleiben, in ihrem sicheren Umfeld. Allerdings hätten viele Patienten Probleme, eine Alltagsstruktur einzuhalten, „überhaupt morgens aufzustehen, sich zu waschen, anzuziehen. Dann ist natürlich so ein Präsenztermin auch schon eine Möglichkeit, sich zu strukturieren.“ Wenn man sich einmal aufgerafft hat und zum Termin gegangen ist, sei es nicht mehr so ein großer Schritt, danach noch eine Runde zu drehen.

Auch sei nicht jeder Mensch vom Computer begeistert, selbst wenn er einen Rechner mit Kamera hat und eine stabile Internetverbindung. Die Videoanbieter seien zwar zertifiziert, trotzdem könne es sein, „dass auf einmal das Gespräch ruckelt oder dass man nichts mehr hört.“ Und das in einem Moment, in dem der Patient aufgelöst ist.

Auch fehle „die Atmosphäre“, so Kunz. Im Gegensatz zu einer Präsenztherapie – „ich kenne viele Patienten nur mit Maske“ – könne er ihnen zwar ins Gesicht schauen. Aber das Emotionale, die Körperhaltung fehle. „Es ist schwieriger, die Gefühle zu lesen.“

Die Wartezeit bei Therapeuten bleiben lang

Bei bestimmten Angststörungen sei es zudem wichtig, dass Patienten neue Erfahrungen machen und er sie zunächst begleitet. Wenn sie Höhenangst haben, besteigt der Verhaltenstherapeut mit ihnen gemeinsam einen Turm. Wenn sie Angst vor dem Bahnfahren haben, fährt er mit ihnen Zug.

Eines ändert auch die Online-Therapie nicht: Die Wartezeit bei einem Psychotherapeuten hat sich dadurch nicht verringert. „Die Versorgungslage bei uns im Ruhrgebiet ist weiterhin mangelhaft“, betont Oliver Kunz. Mit einem Jahr Wartezeit müssten Patienten rechnen, bei ihm in der Praxis seien es zurzeit eineinhalb Jahre. „Da die Wartelisten aber eher länger als kürzer werden, werden auch die Wartezeiten wohl leider nicht kürzer.“

Nun gibt es auch überregionale Online-Angebote, mit kürzeren Wartezeiten. Wenn jedoch nicht nur eine Beratung, sondern eine Psychotherapie angebracht sei, sollte man darauf achten, dass wirklich gut ausgebildete Psychotherapeuten am Bildschirm sitzen, empfiehlt Oliver Kunz. „Online-Therapie ist gut, wenn es eine zusätzliche Möglichkeit ist“, zieht er sein Fazit. „Sie ist weniger gut, wenn es die einzige Möglichkeit ist.“

>> Von Bildschirm zu Bildschirm: Ein Mann mit einer Depression erzählt von seinen Erfahrungen bei der Online-Beratung

Ist das schon nicht mehr normal, oder geht das noch von alleine weg? Die Frage stellt sich irgendwann jeder, der über einen längeren Zeitraum depressiv ist. Oder sich nur so fühlt? Der Schreibende hinter diesen Zeilen hat sich aus eigener Betroffenheit auf die Suche nach einem Antwortenden begeben.

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Wen fragen? Depressive Zustände werden häufig von Antriebsarmut begleitet, das verunmöglicht die langwierige Suche nach einem Termin bei einem ausgebildeten Therapeuten für die Betroffenen. Normal ist in diesem Zusammenhang auch, weil Depression stigmatisiert ist als Form von Geisteskrankheit, dass sie im engsten Kreis der Betroffenen verschwiegen wird. Angehörige und Freunde fielen damit auch für mich als Gesprächspartner weg – auch das muss man erst lernen, über seine Depression zu sprechen.

Und wenn man nun zu den geschätzt fünf Millionen Menschen in Deutschland gehört, die jährlich einmal unter depressiven Zuständen leiden? Eine Möglichkeit sind Angebote karitativer Träger wie, um nur zwei vertrauenswürdige Beispiel zu nennen, von Diakonie und Caritas/Sozialdienst katholischer Frauen. Geschulte Ehrenamtliche stehen hier für Gespräche zur praktischen Lebenshilfe bereit und: Ja, das allein kann schon helfen. Eine psychologische Beratung darf jedoch nicht erwartet werden.

Anonym gegenüber dem Arbeitgeber

Weiter gehen Online-Angebote zum Gespräch unter zwei Bildschirmen mit ausgebildeten Psychologen oder Therapeuten. Viele Arbeitgeber haben Depressionen als folgenreiche Erkrankung ihrer Mitarbeiter erkannt. Deshalb machen einige bereits kostenlose Beratungsangebote. Auch ich kam so ins Gespräch mit Fachleuten – völlig anonym gegenüber meinem Arbeitgeber, der lediglich die Kosten übernimmt, ohne irgendetwas über den Mitarbeiter zu erfahren.

Da sitzt man dann das erste Mal am Küchentisch und wartet auf das Gesicht am anderen Ende der Leitung. Kann da überhaupt ein vertrauensvoller Kontakt entstehen, bei dem man sich öffnen mag? Meiner Erfahrung nach: eindeutig ja. Gerade die Distanz kann helfen, die Schwellenangst zu überwinden. Wie schlecht fühlen Sie sich, sind Sie verzweifelt, bekämpfen Sie Ihre Ängste mit Alkohol oder sonst welchen Drogen? Nicht auszuweichen kann am Bildschirm einfacher sein. Und Nicht-Schweigen ist Gold, wenn es um Depressionen geht.

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Hat es mir geholfen? Ja, sehr bei der Einschätzung der Eingangsfrage „Ist das schon nicht mehr normal, oder geht das noch von alleine weg?“ Und wenn es nicht von alleine weggeht? Für eine Therapie ist Online sicher nur in den wenigsten Fällen geeignet. Doch zumindest können viele Online-Dienste Kontakte vermitteln für die schwierige Suche nach einem therapeutischen Angebot vor Ort.

>> Angebote für die Online-Hilfe – eine Auswahl

Bei der Suche nach einem Therapeuten können der Hausarzt oder Suchmaschinen helfen. Allerdings bietet etwa die der Psychotherapeuten-Kammer NRW (ptk-nrw.de) keine Möglichkeit, das Angebot für Online-Therapie abzufragen. Menschen mit unterschiedlichen Qualifikationen, die Online-Beratung anbieten, findet man über therapie.de – eine Suche des Vereins Pro Psychotherapie. Liegt eine psychische Krankheit vor, ist die Therapie eine Kassenleistung. Online-Gruppentherapie ist teils ebenfalls möglich. Bei Alltagsproblemen helfen auch gut ausgebildete Coaches.

Zudem gibt es Online-Hilfe für Selbstzahler mit kürzeren Wartezeiten: My 7 Steps bietet ab 95 € pro Stunde in zehn verschiedenen Sprachen Gespräche an (my7steps.org). Manche Firmen finanzieren diese Beratung für ihre Mitarbeitenden. Ein weiterer Anbieter, der mit Unternehmen zusammenarbeitet, ist Hanza-Recources (hanza-resources.com).