Bochum. Machen wir uns etwas vor? Ja, und das immer wieder. Philosophie-Professor Albert Newen von der Uni Bochum erklärt, wie wir Erinnerungen ändern.

„Alle Menschen täuschen sich selbst, und zwar gar nicht so selten“, sagt Albert Newen (56). Im Gespräch mit Maren Schürmann erklärt der Philosophie-Professor von der Ruhr-Uni Bochum, wie wir unsere Erinnerungen manipulieren – und welchen Nutzen wir davon haben.

Wenn ich an den Sommerurlaub denke, sehe ich das Meer, darauf schaukeln Boote, über denen Möwen kreisen. Sehr schön! Aber war das wirklich so? Oder malt meine Erinnerung ein neues Bild?

Albert Newen Das hat ja schon eine sehr starke realistische Komponente. Insbesondere dann, wenn eine Erinnerung das eigene Selbstbild, bewährte Denkweisen und Motivation zum Handeln nicht gefährdet, gibt es eigentlich keinen Grund, diese Erinnerung, vereinfacht gesprochen, zu modifizieren. Das Gedächtnis hat vor allem zwei Funktionen: Zum einen soll es mir ermöglichen, in der gegenwärtigen Situation möglichst adäquat zu handeln, und dazu brauche ich wirklichkeitsgetreue Erfahrung, die mir hilft, denselben Fehler nicht noch mal zu machen. Die andere Funktion ist, mein Selbstbild zu stabilisieren. Wenn mein Selbstbild angegriffen wird, finden Veränderungen in der Erinnerung statt. Aber bei positiven Erinnerungen an einen Urlaub ist das nicht der Fall.

Bevor Sie ein Beispiel dafür geben, wann wir unsere Erinnerungen manipulieren, erklären Sie doch bitte, was Sie genau unter einem Selbstbild verstehen.

Wenn jemand mich fragt, wer ich bin, kann ich sagen: Ich bin Professor für Philosophie, ich bin auch Familienvater, ich habe drei Geschwister oder Ähnliches. Neben diesen Aspekten wird mein Selbstbild aber auch ganz zentral bestimmt durch wesentliche Überzeugungen: Wie sehe ich mich selbst? Welche Fähigkeiten habe ich? Dieses positive Selbstbild möchten wir bewahren. Und dafür werden Erinnerungen ans Selbstbild angepasst.

Wann ist das zum Beispiel der Fall?

Albert Newen, Philosophie-Professor an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) .
Albert Newen, Philosophie-Professor an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) . © RUB, Marquard | RUB, Marquard

Nehmen wir an, ein neuer Mitarbeiter wird Teil eines Arbeitsteams und meldet sich bereits am ersten Tag oft zu Wort. Nun kommt es darauf an, ob ich zum Beispiel eine kompetitive Einstellung habe und meine Stellung in der Firma durch das Engagement gefährdet sehe. Wenn mich dann ein anderer Kollege anspricht: „Was hältst du denn vom Neuen?“, sage ich vielleicht: „Na ja, der hat sich ja dem Chef völlig angedient.“ Ich interpretiere das Engagement negativ. Eine andere Person, die eine kooperative, aufgeschlossene Einstellung hat, könnte sagen: „Er hat sich von Anfang an gleich intensiv in die Firma eingebracht.“ Die Erinnerung ist unterschiedlich gefärbt, abhängig davon, wie mein Selbstbild ist: Sehe ich mich durch den neuen Kollegen bedroht oder empfinde ich ihn als Bereicherung?

Das sind ja noch recht frische Erinnerungen. Wie sieht es bei längst vergangenen Zeiten aus?

Erinnerungen, die lange zurückliegen, haben sich eher stabilisiert als kurzfristige Erinnerungen. Aber auch da finden unbewusst, ganz automatisch Anpassungen statt.

Inwiefern?

Zunächst muss ich erklären, wie das Gedächtnis funktioniert: Es gibt zum Beispiel einen auslösenden Reiz, eine Person sieht ein Foto von der eigenen Hochzeit, die lange zurückliegt. Die Gedächtnisspur wird dadurch aktiviert und mit Hintergrundwissen angereichert. Daraus entsteht unser Erinnerungsbild. Welches Hintergrundwissen ausgewählt wird, hängt stark von der Bedeutung des Ereignisses für mein Leben ab: Ist die Ehe sehr glücklich, wird die Feier womöglich lange lebendig erinnert mit vielen Details: Gäste, Sitzordnung, Musik. Kommt es zur Scheidung, werden die Erinnerungen womöglich verblassen, weil die Feier für das eigene Leben nicht mehr die Bedeutung hat. Eine mal stark emotional positiv besetzte Erinnerung verwandelt sich so in eine negativ besetzte: Das war der Fehler meines Lebens.

Anstatt durch die rosarote Brille schaut man also nun kritisch auf die Hochzeit?

Genau, es kann jetzt sein, dass man in der Erinnerung nun andere Ereignisse auf der Hochzeitsfeier hervorhebt, die man damals als nebensächlich interpretiert hat. Nun werden vermeintlich negative Eigenschaften erkennbar, die dazu geführt haben, dass man sich auseinandergelebt hat. Ein Extrembeispiel: Die Partnerin oder der Partner ist eine jähzornige Person. Dieser Jähzorn wurde bisher ausgeblendet. „Das macht die Person doch gar nicht aus, das meint sie gar nicht so.“ Und dann erinnert man sich auf einmal, wie die Person bei der Hochzeit einen Musiker beschimpft hat, weil er nur fünf Minuten zu spät kam. Und nach der Scheidung denkt man: „Das zeichnet die Person sehr wohl aus, das hat man damals schon gesehen, so etwas ist mit meinem Lebensstil nicht vereinbar.“ Man bestätigt wieder das eigene Selbstbild.

Belügen wir uns also selbst?

Ja und nein. Wir können Erinnerungen selbst von sehr unangenehmen Erlebnissen nicht beliebig umformen, das Gehirn hat ja auch eine Wirklichkeitsfunktion. Es will mir die Welt nahebringen, damit ich auch in der Welt angemessen handle. Wenn jemand zum Beispiel eindeutig einen Autounfall verursacht hat, in seiner Rekonstruktion die Verantwortung aber nicht bei sich sieht, dann hat er ein Problem. Er kann in der Wirklichkeit nicht angemessen handeln, er wird erst durch die Polizei darauf hingewiesen, dass er schuld war. Er wird also nicht seine Versicherung informieren, sich nicht entschuldigen. Und andere Personen werden für dieses Verhalten kein Verständnis haben.

Was ist die Funktion dieser Manipulation der Erinnerung? Dass wir besser mit uns im Reinen sind?

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Ja oder mit Charlie Brown zu sprechen: „Ich hoffe immer noch, dass gestern besser wird.“ Außerdem halten wir so in schwierigen Lagen die Motivation aufrecht.

Sie haben gesagt, dass dieses Umformen der Erinnerung automatisch abläuft. Haben wir gar keinen bewussten Einfluss darauf, wie wir etwas erinnern?

Der Gedächtnisabruf ist ein automatischer Prozess, aber ein Stückchen Einfluss haben wir. Wir können bewusst mit Reizen eine positive Erinnerung aktivieren, deshalb stellen wir uns auch Fotos von der Familie oder vom Urlaub ins Büro. Wir können uns die Bilder nur flüchtig anschauen und denken: Das war der dritte Morgen in der ersten Urlaubswoche. Dann bleibt die Erinnerung abstrakt, sie wird womöglich verblassen. Anders sieht es aus, wenn wir uns die Fotos immer wieder genau anschauen und an den wunderschönen Sonnenaufgang denken, das Frühstück mit Blick auf das Meer. Was haben wir dort gemacht, was haben wir da empfunden? Wenn wir diese positive Szene also noch mal neu erleben, dann verstärkt das die Erinnerung, es stärkt auch das Selbstbild und das tut uns gut. Aber dafür braucht man Zeit.