Essen. . Schlau, schüchtern, sportlich: Jeder hat eine Idee von seinem Charakter. Allerdings weicht das Bild oft von dem ab, das andere von uns haben.

Die einen halten sich für großzügig, die anderen für intelligent. Aber wie kommen wir eigentlich zu diesem Eindruck? Maren Schürmann sprach mit Marcus Roth, Professor für Persönlichkeitspsychologie an der Uni Duisburg-Essen. Der 48-Jährige erklärt, wie wir unser Selbstbild malen und ihm eine neue Farbe geben können.

Wie entsteht das Bild, das wir von uns machen – unser Selbstbild?

Marcus Roth: Dafür nehme ich Informationen aus vier unterschiedlichen Quellen. Zum einen äußern sich andere Menschen direkt über mich. Sie sagen, ob ich etwa sportlich oder großzügig bin. Was jedoch wichtiger ist, ist eine interpretative Wahrnehmung. Ein Beispiel: Sie haben mich zu diesem Thema angerufen, daraus schlussfolgere ich, dass Sie mich für kompetent halten. Das kann eine Information sein, die ich für mich herausziehe. Ein anderer Aspekt ist, dass ich mich vergleiche: Wie halte ich einen Vortrag und wie hält der Mann nach mir seinen? Dann gibt es noch eine reflexive Form. Da vergleiche ich mich mit meinem Verhalten von früher: Was kann ich heute besser und was schlechter?

Wie sehr wird unser Selbstbild schon früh geprägt? Wie unumstößlich ist es?

Marcus Roth, Professor für Persönlichkeitspsychologie.
Marcus Roth, Professor für Persönlichkeitspsychologie. © Handout

Das Selbstkonzept entwickelt sich im Kindes- und Jugendalter. Da ich aber bei den genannten Quellen während meines gesamten Lebens neue Erfahrungen machen kann, kann sich auch mein Selbstbild entsprechend ändern. Allerdings zeigen Studien, dass Selbstbilder relativ stabil sind.

Woran liegt das?

Zum Beispiel vermeiden wir Situationen, von denen wir meinen, dass wir sie nicht meistern. Und dann können wir uns auch nicht vergleichen. Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, ich kann kein Tischtennis spielen, dann werde ich nicht in einen Sportverein gehen, um in diesem Bereich neue Erfahrungen zu sammeln. Die Schwierigkeit ist nämlich, dass wir zwar das Selbstbild aufgrund von Informationen langsam aufbauen, danach steuert aber das Selbstbild, welche Informationen wir überhaupt aussuchen.

Wie selektiert unser Selbstbild?

Etwa auf der interpretativen Ebene: Wenn ich von mir selbst denke, dass ich ein Trottel bin, dann würde ich nun nicht denken, dass Sie mich für kompetent halten, sondern dass ich der Einzige bin, der Ihnen für das Interview zugesagt hat. So besteht die Gefahr, dass man sich immer wieder selbst bestätigt.

Wie kann man das Selbstbild trotzdem ändern?

Das Selbstbild ändert sich nur durch neue Erfahrungen. Das ist der Ansatz in Therapien: Konfrontation mit Situationen, die die Menschen bisher gemieden haben. Jemand meint, dass er nicht gut Vorträge halten kann? Dann sollte er Vorträge halten. Sonst wirkt das Selbstbild wie eine selbsterfüllende Prophezeiung. Allerdings ist ein stabiles Selbstbild auch etwas Gutes.

Inwiefern?

Ich habe so ein verlässliches Bild von mir. Ich muss nicht jeden Morgen darüber nachdenken, was ich kann und was nicht. Das gibt den Menschen Sicherheit. Daher neigen sie auch dazu, eher die Informationen zu beachten, die das Selbstbild bestätigen, als solche, die das Selbstbild erhöhen.

Stufen wir uns eher besser oder eher schlechter ein als wir in Wirklichkeit sind?

Schwer zu sagen, was die wirkliche Wirklichkeit ist. Wir können Unterschiede bei den Bildern feststellen, die wir von uns und die anderen von uns machen. Aber wir können nicht sagen, welches davon richtig ist. Wir wissen aber, dass depressive Menschen dazu tendieren, sich selbst sehr negativ zu sehen. Und Frauen neigen dazu, sich etwas schlechter zu sehen als es Männer tun.

Was sind die Gründe dafür?

Das kann daran liegen, dass Frauen andere Vergleichsmaßstäbe heranziehen. Oder sie sind etwas ehrlicher und selbstkritischer bei der Beantwortung solcher Fragebögen. Oder sie schauen genauer auf ihr Selbst. Und je genauer ich mir einen Bereich anschaue, desto defizitärer wirkt er für mich. Da sehe ich dann auf einmal alle Schwachstellen.

Zu viel Reflexion ist also nicht gut?

Wenn sich Menschen zu sehr in den Fokus stellen, nehmen sie natürlich Brüche wahr. Sie haben ein bestimmtes Ideal, vergleichen sich damit und liegen immer darunter.

Was ist denn die Alternative?

Das hört sich jetzt philosophisch an, aber der positive Zustand ist der der Selbstvergessenheit. Dass ich mich selbst gar nicht so ins Zentrum rücke. In Momenten, in denen man wirklich rundum glücklich ist, hat man sich meist gar nicht im Fokus. Die Leute erzählen davon: ,Da war dies, da war das, es war total stressig, aber irgendwie war ich glücklich.’ Wenn wir sagen, jemand geht in seiner Arbeit auf, dann heißt das ja nichts anderes als: Er ist so vertieft in seine Arbeit, dass er sich jetzt gar nicht mehr im Fokus hat.

Wir müssen ja auch nicht in allen Bereichen erfolgreich sein. . .

Ja, es geht auch um die Relevanz. Bereiche, in denen ich nicht so gut bin, müssen mich ja gar nicht belasten. Wenn ich nicht sportlich bin, dann wird mich das nicht in meinem Lebensglück beeinträchtigen. Bei einem Grundschüler sieht das noch anders aus. Da ist die Sportnote ganz entscheidend. Aber es ist gut, wenn wir uns im Laufe des Lebens von gewissen Bereichen verabschieden. Menschen, die zu einem niedrigen Selbstwert tendieren, suchen sich jedoch oft auch später ungünstige Vergleichsmaßstäbe.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Jung und frisch auszusehen, ist natürlich schön. Aber eine 70-Jährige sollte sich da nicht mit einer 20-Jährigen vergleichen. Im Laufe der Jahre sollten andere Aspekte relevant werden, zum Beispiel, wie rund bin ich mit mir, welche Erfahrungen kann ich anderen weitergeben? Dann spricht man auch von erfolgreichem Altern.

Wie machen sich andere Menschen ein Bild von uns?

Marcus Roth: Der erste Eindruck ist relativ schnell gemacht. Das liegt auch daran, dass andere Stereotype im Kopf haben, denen wir mehr oder weniger schnell entsprechen. Es gibt schon Unterschiede, wie wir uns selbst und wie wir andere einschätzen. Unser eigenes Verhalten führen wir sehr stark auf äußere Umstände zurück. Wenn ein Student ein schlechtes Referat hält, denkt er vielleicht: ,Ich hatte keinen guten Tag, das Thema hat mir nicht gefallen.’ Wenn jedoch ein anderer Student ein schlechtes Referat hält, führt man es eher auf die Persönlichkeit zurück: ,Der kann das nicht.’

Dadurch können Selbst- und Fremdwahrnehmung auch nie deckungsgleich sein?

Genau. Sie entsprechen sich am meisten, wenn sich die Leute besser kennen, bei Ehepartnern, bei guten Freunden. Bei kurzfristigen Bekanntschaften geht das schon mal weit auseinander.

Das Selbstbild ist recht stabil – wie sieht das beim Fremdbild aus?

Das Fremdbild ist weniger stabil. Da steuere ich ja nicht, ob ich unterschiedliche Erfahrungen mache. Trotzdem ist es auch relativ stabil, das gibt einem ebenfalls Sicherheit. Wenn ein unfreundlicher Kollege auf einmal freundlich ist, denke ich ja als erstes: Der will jetzt etwas von mir.

Und wenn ein schüchterner Mensch seine Wirkung ändern will – kann er sich anders verhalten?

Das kann nach hinten losgehen. Wenn man nicht authentisch ist, merken das die anderen. Und dann rückt er sich wieder sehr ins Zentrum, wie gucke ich, wie wirke ich auf andere?

Also lieber versuchen, neue Erfahrungen zu machen?

Ja, und überlegen, wie wichtig ist es einem überhaupt, dass jemand von einem denkt, man sei nicht schüchtern.