Bochum. In Deutschland sind über 300.000 Menschen mit einer Beeinträchtigung in Werkstätten beschäftigt. Der Ruf wird laut, dass sie mehr Geld erhalten
An ihrer Werkbank sitzt Reem Saad vor fünf Behältern aus Kunststoff. Von links nach rechts greift die 22-Jährige mit zwei Fingern in die Fächer und zieht kleine Metallteile heraus. Die Bauteile steckt sie nacheinander in ein wenige Zentimeter großes Plastikgehäuse, drückt sie an der richten Position vorsichtig fest und legt sie auf einem Brettchen ab – vier Gehäuse in einer Reihe, fünf Reihen nebeneinander, bis das Brettchen voll ist und zur nächsten Station gelangt. Am Ende werden so Schalter entstanden sein, die eine Lüdenscheider Firma für Wohnmobile anbietet.
Bei diesem Unternehmen ist Reem Saad indes nicht beschäftigt. Sie arbeitet in einer Bochumer Behindertenwerkstatt des Evangelischen Johanneswerks, die mit der Serienproduktion der Schalter beauftragt worden ist. In Deutschland gibt es rund 700 solcher Werkstätten mit knapp 3000 Standorten. Mehr als 300.000 Menschen sind dort beschäftigt, die eine psychische, geistige oder körperliche Beeinträchtigung haben und voll erwerbsgemindert sind.
Forderung nach Mindestlohn
In den Werkstätten erhalten die Menschen eine Tagesstruktur und Betreuung. Doch sie konfektionieren, montieren, schreinern, kochen und gärtnern auch. Für ihre Arbeit erhalten sie eine Art Lohn. Weil die Summe deutlich unter dem liegt, was Beschäftigte am allgemeinen Arbeitsmarkt verdienen, regt sich Widerstand.
Saad kommt seit fünf Jahren in die Werkstatt in Altenbochum. Neben der Industriemontage, in der sie beschäftigt ist, gibt es dort eine Schreinerei, Bereiche für Metallbearbeitung, Hauswirtschaft und Gärtnerei. 170 Menschen werden hier beschäftigt. Am Anfang sei sie nicht so gut klargekommen, sagt Saad. Sie habe oft den Leiter ihrer Gruppe fragen müssen, der das zwölfköpfige Team betreut und auch jetzt gerade von Platz zu Platz eilt. „Aber jetzt geht es gut“, sagt die 22-Jährige und lächelt unter ihrer Brille. Die Arbeit gefalle ihr, sagt sie, „und die Pause, da sitzen wir alle zusammen“.
Früherer Werkstatt-Mitarbeiter spricht von „Ausbeutung“
Etwa zwei Euro die Stunde verdienen Beschäftigte in der Bochumer Werkstatt im Schnitt. 250 Kilometer entfernt in Trier nennt Lukas Krämer so etwas „Ausbeutung“. Der 28-Jährige erzählt am Telefon, dass er selbst fünf Jahre lang in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet hat. Dort habe er Wasserhähne zusammengeschraubt, geprüft und poliert. „Ich habe 1,35 Euro die Stunde bekommen, das ist ein Hungerlohn“, sagt Krämer.
Er kritisiert, dass Werkstattbeschäftigte trotz Vollzeitbeschäftigung weiterhin Grundsicherung beziehen müssten und so auch fürs Alter kaum vorsorgen könnten. „Man ist trotz Arbeit arm.“ Krämer fordert den Mindestlohn für die Beschäftigte und hat eine Petition gestartet, die bundesweit für Aufmerksamkeit sorgt: Über 130.000 Menschen haben die Petition unterzeichnet, die er unlängst dem Bundesarbeitsministerium vorgelegt hat.
Bundesarbeitsgerichtspricht von arbeitnehmerähnlichem Verhältnis
Mit seiner Forderung steht er nicht allein da. Erste Klagen haben die Gerichte beschäftigt, unter anderem 2017 das Bundesarbeitsgericht. Das Gericht unterstrich damals aber, dass in Werkstätten nur arbeitnehmerähnliche Beschäftigungsverhältnisse bestünden. Diese seien nicht mit denen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vergleichbar – daher auch kein Mindestlohn.
Auch die EU befasst sich mit dem Thema: In einem Bericht haben Fachpolitikerinnen und Fachpolitiker das Auslaufen der Werkstätten gefordert. Sie verweisen auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland verpflichtet, „den Erwerb von Arbeitserfahrung durch Menschen mit Behinderungen auf dem offenen Arbeitsmarkt zu fördern“.
Werkstätten haben zwei „Geldgeber“ und einen Grundlohn von 99 Euro
Das Werkstätten-System ist für Außenstehende nicht leicht zu überblicken. Die Einrichtungen dienen mit ihrem Arbeits- und Qualifikationsangebot in einem geschützten Raum einerseits der Betreuung und Rehabilitation ihrer Beschäftigten. Anderseits sollen sie eigene Einnahmen erwirtschaften und daraus Löhne für die Werkstattbeschäftigten bezahlen. Dadurch haben sie zwei „Geldgeber“, wie sich am Beispiel der Bochumer Einrichtung zeigt: Die Finanzierung stützt sich maßgeblich auf die öffentliche Hand. In NRW refinanzieren die Landschaftsverbände alle Personal- und Sachkosten rund um Unterstützung, Anleitung und Begleitung – auf vier Werkstattbeschäftigte kommt eine Fachkraft.
Einnahmen aus der wirtschaftlichen Tätigkeit, also aus Aufträgen wie dem der Lüdenscheider Firma, dürfen nur 15 Prozent der Gesamteinnahmen ausmachen und nur aus dieser Summe werden Löhne bezahlt.
Bundesweit liegt der Grundlohn, den alle bekommen, bei 99 Euro. Beim Johanneswerk erhalten die Beschäftigten 119 Euro. Zu dem evangelischen Träger gehören acht Werkstätten. „Dadurch können wir größere Kunden gewinnen und letztlich auch mehr verdienen“, sagt der Bochumer Geschäftsleiter Christoph Pasch vom Johanneswerk. Beim Thema Lohn sei die Einrichtung aber auch „von unten gekommen. Wir hatten aufzuholen.“ Zum Grundlohn kommen je nach Arbeitsplatz, Arbeitsmenge und sozialen Kriterien Zuschläge. In einzelnen Fällen liegt der Lohn bei bis zu 800 Euro.
Geschäftsleiter aus Bochum spricht sich für Öffnung der Werkstätten aus
Natürlich entspreche das nicht einem Mindestlohn. Die Debatte greife ihm aber auch zu kurz, sagt Pasch. „Wenn, dann müssen wir auch darüber sprechen, welche Rolle Werkstätten künftig haben sollen“, sagt er. Pasch wirbt dafür, die Werkstätten zu öffnen für andere Menschen, die nur schwer an den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können und deshalb über soziale Träger in Beschäftigung gebracht werden. „Wir haben die Infrastruktur, um uns breiter aufzustellen“, sagt Pasch.
Initiativen wie „Job Inklusive“ aus Berlin setzen sich ebenfalls für eine Reform der Werkstätten ein. Dazu gehöre es, dass das Entgelt in den Werkstätten erhöht wird, sagt Projektleiterin Silke Georgi. Aber genauso sollten Werkstätten daran gemessen werden, wie viele Menschen sie an den allgemeinen Arbeitsmarkt vermitteln. „Im Moment sind es ein Prozent, warum schaffen sie nicht jetzt schon mindestens eine Quote von fünf oder acht Prozent? Wir wissen, dass es viele Menschen in den Werkstätten gibt, die etwas anderes probieren wollen“, sagt Georgi.
Eine Möglichkeit dazu sind schon jetzt Inklusionsunternehmen, die als Betriebe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nach Tarif oder ortsübliche Löhne zahlen und einen besonderen soziale Auftrag haben. Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung machen 30 bis 50 Prozent der Belegschaften aus. Doch Mittel und Stellen sind begrenzt.
Werkstatträte wollen einen höheren Basislohn, aber Schutzrechte behalten
In Bochum sagt Christoph Pasch, dass es seines Wissens nach nicht eine Werkstatt in Deutschland gebe, die eine Vermittlungsquote von acht Prozent erreiche. „Bei uns arbeiten Menschen, die dauerhaft voll erwerbsgemindert sind.“ Es gebe auch Beschäftigte, die wegen ihrer Beeinträchtigung gepflegt werden müssen, erklärt er.
Die Werkstatt lagere aber häufig Arbeitsplätze aus. Etwa zwölf Prozent der Beschäftigten würden derzeit außerhalb des Werkstattsystems arbeiten, haben dabei aber jederzeit die Möglichkeit zurückzukommen. „Wir erleben immer wieder, dass Unternehmen dieses Angebot zwar gern annehmen, dann aber der letzte Ruck, einen Menschen mit einer Beeinträchtigung einzustellen, oft fehlt.“
Interessenvertreter der Werkstattbeschäftigten kritisieren zwar die Bezahlung – einen Mindestlohn, wie Lukas Krämer aus Trier ihn einfordert, wollen sie aber nicht. Jürgen Thewes, Vorstand des Vereins Werkstatträte Deutschland, schreibt in einer Stellungnahme vom Mai: Wer den Mindestlohn fordere, fordere auch den regulären Status als Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer. Damit drohe aber der Verlust wichtiger Schutzrechte: Arbeitsplatzgarantie, keine Leistungsverpflichtung und praktische Unkündbarkeit.
Thewes warnte zudem vor Belastung und Druck auf die Beschäftigten. Die Werkstatträte fordern etwas anders: ein Basisgeld, das bei 70 Prozent des deutschen Durchschnittseinkommens liegen sollte. Grundsicherung und andere Transferleistungen fielen weg.
SPD-Kandidat Scholz sagt zu: Offen, das System neu zu mischen
Lukas Krämer arbeitet bereits seit drei Jahren nicht mehr in einer Werkstatt. Er hat sich als Youtuber und Social-Media-Fachmann selbstständig gemacht und sei längst nicht mehr auf die Grundsicherung angewiesen, erzählt er am Telefon.
An seiner Forderung nach einem Mindestlohn für Werkstattbeschäftigte ändert das nichts: Bei der „Bundestagswahl-Show“ auf ProSieben hat der 28-Jährige in dieser Woche seine Forderung dem SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz mit auf den Weg gegeben. Scholz rechnete vor, dass die Mischung aus Sozialleistungen und dem Entgelt für Werkstattmitarbeitende durchaus einem Mindestlohn von 12 Euro entsprächen. Es sei aber möglich, das System neu zu mischen. Für den Stolz der Menschen sei das wichtig. „Ich bin offen dafür“, sagte Scholz.