New York. Die Anschläge vom 11. September änderten Joan Mastropaolos Leben. Seit 20 Jahren führt sie durch die Gedenkstätte. Das gibt ihr Kraft.
Zärtlicher kann man Blätter nicht streicheln. Wenn Joan Mastropaolo nach ihrer Arbeit an der Gedenkstätte des Grauens „emotional angefasst ist”, auch weil einige ihrer Zuhörer sich mit feuchten Augen und Kloß im Hals überschwänglich für die unter die Haut gehenden Schilderungen bedankt haben, holt sich die 62-Jährige bei einem kleinen Birnbaum neue Kraft.
Der „Survivor Tree” hatte die Terror-Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York unter Bergen von Schutt schwer beschadet überlebt. Er wurde nach Aufpäppelung in einer Baumschule zehn Jahre später im Schatten der Gedenkstätte von „9/11” wieder eingepflanzt. Für die zierliche Frau ist er „das vielleicht schönste Symbol für die Unverwüstlichkeit und den Überlebenswillen meiner Stadt”.
„Ground Zero”: Ort der Trauer um die Opfer des 11. September
Vor elf Jahren fing die Enkelin sizilianischer Einwanderer als Ehrenamtliche im Museum der „September 11th Families Association” an. Lange vor dem pompösen staatlichen Museum am „Ground Zero” haben Leute wie Lee Ielpi hier einen einzigartigen Ort geschaffen, an dem Überlebende, Feuerwehrleute, Notärzte, Polizisten und Menschen aus dem Kiez im Süden Manhattans, die mit Glück davongekommen sind, ihre Trauer leben können.
Ielpi, dessen Sohn Jonathan einer der 343 Feuerwehrmänner ist, die am 11. September gestorben sind, war der Taktgeber für das Forum, das bis heute anhand von Erinnerungsstücken und Berichten aus erster Hand die Perspektive der Opfer einnimmt. Seit der Eröffnung 2006 hat das „9/11 Tribute Museum” an der Greenwich Street über drei Millionen Gäste betreut. Und unter den knapp 1000 Ehrenamtlichen ist Joan Mastropaolo eine Veteranin - mit über 800 Touren für Tagestouristen.
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Augenzeugin Mastropaolo: "Ich sah das erste Flugzeug in den Nordturm rasen"
„Es tut mir gut, über meine Erfahrungen zu sprechen", sagt Mastropaolo im Gespräch mit dieser Redaktion, „ich muss immer wieder neu darüber reden, das ist meine Therapie. Ich werde das weiter machen, solange ich laufen und atmen kann."
Für Joan Mastropaolo begann der Tag des unverjährbaren Verbrechens mit Routine. Nach dem Duschen machte sie sich aus ihrem Apartment, das in Wurfweite zum World Trade Center lag, auf den Weg zu ihrer Arbeitsstelle bei einer Versicherung in Jersey City.
Terror in den USA: Tausende Tote an 9/11
Um auf die andere Seite des Hudson Rivers zu gelangen, bestieg die damals 42-Jährige in den Katakomben des Nordturms gegen 7.30 Uhr die U-Bahn. „Es war ein herrlicher, kristallklarer Herbstmorgen. Alles war normal. Bis ich im Büro ankam und gegen etwa viertel vor neun ein lautes Fluggeräusch hörte und vom Fenster aus sah, wie das erste Flugzeug in den Nordturm raste.”
9/11: Acht Stunden der Ungewissheit
Binnen Sekunden griff sie zum Hörer, um Frank Mastropaolo zu erreichen. Ihr Mann stand noch unter der Dusche. „Wir werden attackiert”, erinnert sich die zierliche Frau an diesem heißen Tag Ende August an ihre eigenen Worte, „kein Pilot kann doch das World Trade Center übersehen!”
Wenige Minuten später, um 9.03 Uhr, traf das zweite Flugzeug den Südturm. Frank Mastropaolo, bis heute davon schwer traumatisiert, sah den Aufprall vom Schlafzimmer-Fenster aus in Echtzeit. „Du musst sofort da raus”, schrie Joan am Telefon. Danach verloren sich die Eheleute für acht Stunden aus den Augen.
Terror-Überlebende wollen bleiben - die Trümmerberge im Blick
Als sie am Abend gemeinsam zu ihrer Wohnung gingen, waren dort alle Fensterscheiben herausgedrückt. Zentimeterdicker, weißer Staub hat das Apartment unbewohnbar gemacht.
In diesen Stunden, rekapituliert die resolute Frau, sei der Entschluss gewachsen: „Wir gehen hier nicht weg. Wir kommen wieder. Wir gehören an diesen Ort.” Acht Monate später zogen die Mastropaolos gegen den vehementen Rat der Verwandtschaft, die vor toxischen Luftverhältnissen warnte, im selben Haus in eine andere Wohnung ein - immer die Trümmerberge von 9/11 im Blick.
Terroranschlag vom 11. September: Trauerarbeit wird nie abgeschlossen sein
In den Wochen vor dem 20. Jahrestag drängeln sich täglich Tausende auf dem Gedenk-Areal, wo einst die Doppeltürme standen. Von den zwei den Grundrissen nachempfundenen quadratischen Pools, von deren Rändern Tausende Liter Wasser in die granitschwarze Tiefe stürzen, um abermals in einer Öffnung zu verschwinden, geht für Mastropaolo immer noch „eine Wirkung aus, die tief meine Seele berührt”.
Beim Gang entlang der bronzenen Brüstung, auf der die Namen der rund 3000 Opfer von New York, Washington und Shanksville/Pennsylvania eingestanzt sind, hält sie immer wieder an, streichelt behutsam die Namenszüge ihr bekannter Menschen, erzählt Anekdoten und sagt da, wo weiße Rosen in den Fugen stecken, einen kurzen Geburtstagsgruß.
Dass irgendwann die Trauerarbeit abgeschlossen sein könnte, glaubt sie nicht. Noch immer seien Hunderte, die damals starben, spurlos verschwunden. „Es gibt für die Angehörigen keine DNA-Spuren und damit auch keinen erlösenden Todesbeweis.”
9/11 soll nicht in Vergessenheit geraten
Ihr Motiv, abseits des selbsttherapeutischen Aspekts, ist handfester Natur. „Die Geschichte des 11. September darf für künftige Generationen nicht verloren gehen. Junge Menschen wissen heutzutage kaum etwas darüber. Ich tue alles, damit nicht in Vergessenheit gerät, was dieses Land für immer verändert hat.”
Dass es quer durch alle Bundesstaaten kein einheitliches Curriculum gibt, nach dem „9/11” in der Schule gelehrt wird, bringt sie zur Verzweiflung. „Ich will die Geschichten derer, die hier gestorben sind, am Leben erhalten.” Geschichten wie die der Keenes.
Manchmal geht sie gemeinsam mit ihre Freundin Judy Keene auf 9/11-Tour. Richard Keene starb am 11. September in einem Bürotrakt, der direkt in der Aufprallzone eines der Flugzeuge lag. „Er hatte nicht den Hauch einer Chance.” Das Paar hat fünf Söhne. „Um seinen Namen zu ehren, hat Judy daheim in Connecticut ein Sportzentrum gegründet”, sagt Joan Mastrapaolo voller Stolz, „Richards Geist bleibt so am Leben.”
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Anschläge vom 11. September - eine Chronik:
- 8.46 Uhr Ortszeit: In dieser Minute steuert American-Airlines-Flug 11, aus Boston kommend, in den Nordturm des World Trade Centers. 92 Menschen an Bord der Boeing 767, 76 Passagiere, elf Crew-Mitglieder, fünf El Kaida-Terroristen, sterben.
- 9.03 Uhr: United-Airlines-Flug 175, ebenfalls in Boston gestartet, fliegt in den Südturm. 65 Tote - 51 Passagiere, neun Crew-Mitglieder, fünf Terroristen.
- 9.37 Uhr: American-Airlines-Flug 77 explodiert im Pentagon in Washington. 53 Passagiere, sechs Crew-Mitglieder und fünf Entführer sterben.
- 9.59 Uhr: Der erste der beiden 410 Meter hohen Zwillingstürme des World Trade Centers stürzt ein.
- 10.03 Uhr: United-Airlines-Flug 93 endet beim Einschlag auf einer Wiese in Shanksville/Pennsylvania. Todesmutige Passagiere hatten sich gegen die Entführer aufgelehnt, damit einen weiteren Terrorakt verhindert und die Maschine zum Absturz gebracht. Es sterben 33 Passagiere, sieben Crew-Mitglieder und vier Terroristen.
- 10.28 Uhr: Auch der zweite Turm des World Trade Centers stürzt in sich zusammen. In den Trümmern finden insgesamt 2973 Menschen unmittelbar den Tod.