Alpen. Die Musiker Judy Bailey und Patrick Depuhl haben der Suche nach ihren Vorfahren ein Buch gewidmet. Titel: „Das Leben ist nicht schwarz-weiß“.
Sie sind ein ganz normales Paar. Und dennoch sind sie kein ganz normales Paar: Judy Bailey (53) und Patrick Depuhl (51) machen gemeinsam Musik und fühlen sich am Niederrhein verwurzelt. Doch die Wurzeln ihrer Familien liegen eigentlich weit entfernt voneinander. Judy Bailey wuchs in England und auf Barbados auf – wohin ihre Vorfahren aus Afrika gebracht wurden. Und Patrick Depuhl vom Niederrhein entdeckte, dass ein Teil seiner Familiengeschichte in eines der Lebensborn-Heime der SS führt. Dies und viel mehr haben die beiden in einem Buch, auf einem Musikalbum und mit einem Live-Lese-und-Musikprogramm verarbeitet. Über den Titel „Das Leben ist nicht schwarz-weiß“ sprach Georg Howahl mit dem Paar.
Sie haben ihre Lebens- und Familiengeschichten zu einem Buch mit Musik gemacht – und es mit einer Botschaft von Liebe und Toleranz versehen. Wie hat sich das Projekt entwickelt?
Depuhl Tatsächlich hatten wir zuvor ganz gute Erfahrungen mit Konzertlesungen gemacht. Damals, bei Judys Biografie, hatte jemand uns gefragt: Könnt Ihr Lesungen machen? Wir sagten: Nur lesen ist zu wenig, wir möchten lesen und singen, so dass das in einen Dialog miteinander tritt. Die Songs und die Texte geben sich gegenseitig Inspiration und Raum zum Atmen. Als wir jetzt diese Lebensborn-Sache und noch ein paar andere Dinge herausgefunden hatten, da dachten wir: Es ist ein wichtiges Thema für diese Zeit.
Aber von da ist es ja noch ein großer Schritt zum Buch…
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Depuhl Die erste Konzertlesung hatten wir im Rahmen des Kirchentages im Dortmunder Konzerthaus. Und da saß eine Frau vom Verlag, die kam nachher begeistert auf uns zu. Ein paar Tage später bot sie uns an, ein Buch daraus zu machen.
Frau Bailey, die Familiengeschichte auf Barbados und Afrika war schwierig nachzuvollziehen, weil es so wenige Dokumente gab...
Bailey Ich weiß nicht, ob ich noch einmal in meine Familiengeschichte geguckt hätte, wenn Patrick nicht in seiner so viel Substanz gefunden hätte. Ich kann nicht so weit zurückschauen. Einer der größten Verluste in der Geschichte meiner Familie ist, dass der Name, den ich jetzt trage, nicht der ursprüngliche Name ist, sondern der Name des Plantagenbesitzers, bei dem meine Vorfahren als Sklaven gearbeitet haben. Man muss sich das vorstellen: Ich trage den Namen des Plantagenbesitzers. Auch die Sprache meiner Vorfahren wurde ihnen untersagt und ging verloren.
Was haben Sie ohne Unterlagen gemacht, um Ihren Wurzeln nachzuspüren?
Bailey Ich habe irgendwann einen DNA-Test gemacht – und es scheint, als ob der größte Teil meiner Wurzeln aus Nigeria stammt. Das ist konkreter geworden, aber es ist immer noch diffus. Ich wusste auch, dass in meinen Genen europäische Weiße sind, aber dass es zwanzig Prozent waren, das war für mich überraschend.
Herr Depuhl, war es für Sie als moderner, weltoffener Mensch sehr hart festzustellen, dass Ihr Vater in einem „Lebensborn“-Heim der Nazis zur Welt kam, wo unverheiratete Mütter unter die Fittiche der Partei genommen wurden? Das Motto lautete „Heilig soll uns sein jede Mutter guten Blutes!“ Ihr Vater hat ja nie darüber geredet...
Depuhl Gerade die Nazizeit hat mich schon immer interessiert. Es gibt bei uns im Dorf den jüdischen Friedhof, wir haben Stolpersteine, es stand hier früher eine Synagoge. Man weiß also: Die Nazis gab es nicht nur Berlin, es waren nicht nur Hitler, Himmler, Göring, sondern zumindest ein Großteil des Landes war angesteckt. Es war ja auch nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und durch die Inflation eine heftige Zeit. Insofern kann ich teilweise sogar verstehen, dass viele erst einmal sagten: „Da suchen wir unser Heil.“ Es waren ganz normale Leute und zu dem Zeitpunkt erschien manches wohl eine Lösung zu sein. Es ist einerseits sehr menschlich. Trotzdem ist es andererseits schockierend für mich. Dass viele soweit mitgingen und erst so spät bemerkten, was wirklich gespielt wurde. Das ist erschreckend. Wenn man ehrlich schaut, merkt man aber eben deutsche Geschichte ist nicht von uns abgetrennt, damit haben wir sehr wohl etwas zu tun. Es sind auch unsere Familiengeschichten.
Sie sagen, dass es auch hier nicht nur Schwarz und Weiß gab…
Depuhl Das ging durch die ganze Familie damals: Die eine Schwester war gegen die Nazis, die andere war dafür. Der eine Bruder ist vor Stalingrad gefallen, der andere hat sich den Nazis zu Hause am Niederrhein widersetzt. Und ich fand es eher gut, so ein bisschen Klarheit da reinzubringen. Dass nach dem Krieg darüber geschwiegen wurde, war vielleicht eine Überlebensstrategie. Aber ich hätte mir gewünscht, die Generation könnte mehr darüber sprechen. Und darum war das für uns ein bisschen eine Einladung zu sagen: Lasst uns diese Geschichten erzählen, nicht verurteilend, auch nicht zu sehr mit Scham belastet. Aus Geschichte und Geschichten kann man viel lernen.
Es gehört ja auch Mut dazu, sich öffentlich gegen Rassismus zu wenden. War das ein großer Schritt für Sie?
Depuhl Wir haben schon für uns gemerkt: Es ist wichtig, deutlich zu sprechen. Oft hat man gerade wegen des Internets und wegen hassvoller Proteste Angst. Weil man denkt: Oh Mann, dann werde ich mit reingerissen. Aber wir haben gesagt: Nein, es ist auch gut, mit den Geschichten rauszugehen und sachlich Stellung zu beziehen. Wenn etwa Herr Höcke sagt, dass die Schwarzen und die Weißen getrennt bleiben sollen, dann gucken wir uns unsere Familie an. Und wir sehen, was für wunderbare Jungs wir haben… Das passt alles gar nicht in dieses Schwarz-Weiß-Schema rein, was da propagiert wird. Man sieht diese Wahlkampfplakate gerade überall und denkt: Ihr macht es euch zu einfach. Das ist genau das Schwarz-Weiß-Denken, gegen das man etwas tun sollte.
Und wie konkret?
Depuhl Mit Leuten ins Gespräch kommen. Sowohl mit denen, die schon lange hier leben, als auch mit denen, die dazugekommen sind. Das sind natürlich in den letzten Jahren viele Geflüchtete gewesen. Wir haben immer wieder versucht mit vielen anderen gemeinsam, ob bei einer Gartenparty, einem Musikprojekt oder bei Ausflügen, Menschen ins Gespräch miteinander zu bringen. Denn dann ist das nicht mehr nur „der Flüchtling“, dann ist das auf einmal der Ali und die Kadisha – und die sind doch okay. Wir haben schon gescherzt: : Wer ist hier eigentlich Flüchtlingsbetreuer? Wir – oder unsere neuen Freude im Dorf, die in unserem Altenheim ihre Ausbildung gemacht und Arbeit gefunden haben .. und uns wohl demnächst betreuen.
Ihre drei Jungs kommen im Buch ja auch zu Wort – bei einem Küchengespräch. Wie kam es dazu?
Bailey Wir haben uns hingesetzt und gesagt: Lasst uns reden! Wir möchten von eurer Generation wissen, wie es für euch ist, weil ihr in einer anderen Rolle seid als wir. Mit einer schwarzen Mutter, einem weißen Vater. Wie ist es für sie, mit uns aufzuwachsen in Deutschland, in die Schule zu gehen. Es war schön und teilweise schmerzhaft, das alles zu hören. Ein paar Sachen hatten wir natürlich mitbekommen. Und wir mussten schon mal mit der Schule sprechen wegen ein paar rassistischen Vorfällen. Aber sie haben alles ganz frei erzählt. Deshalb möchte ich, dass wir mehr darüber sprechen. Denn es ist für mich als Erwachsene wichtig zu wissen, wie meine Kinder das erleben.
Das Buch: Judy Bailey, Patrick Depuhl: Das Leben ist nicht schwarz-weiß – Geschichten von Wurzeln, Welt & Heimat, Adeo, 208 S., 20 € Die CD: Das Doppelalbum trägt denselben Titel (DePool) und kostet auch etwa 20 € Live-Konzertlesungen: 11.9. Alpen, 12.9. Bergisch Gladbach, 24.9. Burbach-Würgendorf, 25.9. Hilchenbach, 2.10. Gelsenkirchen, 3.10. Essen, 10.12. Biedenkopf-Gladenbach