Essen. Ein Anwalt und ein Stalker scheitern mit jahrelangen Versuchen, unseren Gerichtsreporter Stefan Wette zu zerstören.

Im Sommer 2005 forderte ich in einem Brief Bodo Hombach auf, den damaligen Geschäftsführer unseres Verlages, endlich weiches Klopapier in der Redaktion bereitzustellen. Mein Beruf, ich bin Gerichtsreporter, verlange es nun mal, dass ich über Stunden nur dasitze und zuhöre. Die Folge seien juckende Furunkel am Hintern... Glauben Sie mir, selbst wenn ich an Furunkeln gelitten hätte, niemals wäre ich auf die Idee gekommen, so einen Brief abzuschicken. Und schon gar nicht an Bodo Hombach. Er leitete den Brief leider an die Chefredaktion weiter, versehen mit einem fetten Fragezeichen. Der Chefredakteur wollte von mir wissen, ob das mein Ernst sei.

So fing das an mit dem Stalker. Er hat über mehrere Jahre Briefe an meinen Arbeitgeber, Behörden und sogar meine Nachbarn geschrieben, unterzeichnet mit meinem Namen, mit den absurdesten Anliegen und Fragen. Meine Familie bekam Angst. Nicht wenige Menschen hielten mich für irre. Das SEK war kurz davor, mein Haus zu stürmen.

Anruf von meinem Chef

Ich selbst erfuhr von diesen Briefen immer erst hinterher, wenn Leute aufgebracht auf mich zukamen. Der Stalker warf sie wie eine Granate in mein Leben und wartete genüsslich auf die Explosion. Erst Jahre später erfuhr ich, wer wirklich dahintersteckte – und habe, glaube ich, verstanden, was er damit bezwecken wollte.

Ich konnte die Chefredaktion in einem langen Gespräch besänftigen, sie glaubte mir am Ende, dass ich nicht der Absender des Furunkel-Briefs war – und sie sprach mir Mut aus, gegen den Stalker anzukämpfen. Früh hatte ich einen Verdacht, dass die falschen Briefe mit einem Rechtsstreit zusammenhingen, in den ich in der Zeit verwickelt war. Ein Rechtsstreit mit einem Anwalt.

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Ich hatte in einem Artikel über einen Prozess geschrieben, in dem es um einen Radioreporter ging. Der Reporter musste sich am 21. September 2004 vor Gericht verantworten, weil er nachts in einer Tankstelle in der Essener Innenstadt eine Frau als Hure beschimpfte.

Solche Zettel wurden in der Stadt verteilt. Unten stand die Adresse und Telefonnummer von Gerichtsreporter Stefan Wetten drauf.
Solche Zettel wurden in der Stadt verteilt. Unten stand die Adresse und Telefonnummer von Gerichtsreporter Stefan Wetten drauf. © Stefan Wette | Stefan Wette

Im Gerichtsprozess verunglimpfte der Anwalt des Radioreporters die Frau – ich nenne den Anwalt in dieser Geschichte mal Dr. Anwalt, so stolz ist er auf seinen Titel. Also, Dr. Anwalt stellte die Frau als drogenabhängig und unglaubwürdige Person dar. Und: Er warf dem Richter, Wilhelm Grewer, vor, sollte er seinen Mandanten wegen Beleidung schuldig sprechen, gelte wohl in diesem Gerichtssaal nicht mehr der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“. Der Richter war entsetzt über die Verteidigung des Dr. Anwalt. Er sagte, er habe in seiner Berufslaufbahn so etwas noch nie erlebt. Er sprach den Radioreporter schuldig.

Es kommt selten vor, dass ein Richter so erschüttert ist. In meinem Bericht ging ich darauf ein. Ich begründete das Unbehagen des Richters damit, dass Dr. Anwalt ihm Rechtsbeugung vorwarf, eben indem er sagte, es gelte nicht mehr „Im Zweifel für den Angeklagten“, sollte sein Mandant verurteilt werden.

Der Anwalt muss vor Wut geschäumt haben

Dr. Anwalt muss wohl vor Wut geschäumt haben, als er meinen Bericht gelesen hat. Auf jeden Fall hat er sich beim Deutschen Presserat über den Text beschwert. Er hat eine einstwillige Verfügung beim Amtsgericht in Düsseldorf erwirkt, eine sogenannte Unterlassungserklärung, nach der ich den Vorwurf der Rechtsbeugung nicht mehr äußern dürfte. Und: Er verklagte mich auf Schadensersatz – ihm Rechtsbeugung vorzuwerfen, sei rechtswidrig. Ein zäher Rechtsstreit nahm seinen Lauf.

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Im Juli 2005 kam es in Düsseldorf zum Gerichtsprozess wegen meines Artikels über Dr. Anwalt. Ich betrat mit einem mulmigen Gefühl und zitternden Knien das Landgericht in Düsseldorf. Bisher kannte ich das Gericht als Beobachter, jetzt war ich der Angeklagte. Dr. Anwalt wirkte dagegen siegessicher, als er den Flur des Gerichts betrat. „Na“, sagte er locker, „über was schreiben Sie denn heute?“ Der Richter der Verhandlung, Gerd Köthnig, machte schnell klar, wie er zu dem Fall stand. Er sagte, er könne mit der gegen mich gerichteten einstweiligen Verfügung „nur wenig anfangen“. Er war auf meiner Seite. Erleichterung machte sich in mir breit.

Nach der Verhandlung fragte Dr. Anwalt mich, ob wir den Rechtsstreit nicht beilegen wollten. Von mir aus war das kein Problem. Ich hatte nur eine Bedingung: eine Entschuldigung. Er war dazu nicht bereit. Okay, sagte er, dann drohe eben ein langes Verfahren. Kurz darauf bekam mein Chefredakteur den Furunkel-Brief.

Ein Plakat am Altkleidercontainer

Von den drei Attacken des Dr. Anwalts waren mittlerweile zwei ins Leere gelaufen: Der Presserat sanktionierte mich nicht und die einstweilige Verfügung war mit diesem Tag auch passé. Blieb nur noch seine Klage auf Schadensersatz.

Ein paar Tage nachdem Richter Köthning die einstweilige Verfügung auseinandernahm, stand 100 Meter entfernt von meinem Haus im Essener Stadtteil Kupferdreh auf einem Altkleidercontainer der Satz „Stefan Wette hier hinein“. Also da, wo die Lumpen hineinkommen. Jetzt hängte er also auch noch Plakate auf.

Der Tag des Gerichtsprozesses. Ich hatte wieder ein mulmiges Gefühl. Der Richter lehnte zwar den Großteil der Klage von Dr. Anwalt ab, in einem Punkt gab er ihm aber Recht. Das mit der Rechtsbeugung hätte ich nicht schreiben dürfen. Wir wollten Berufung einlegen. Das war klar. Denn es konnte nicht sein, dass Dr. Anwalt mit diesem Angriff auf die Pressefreiheit Recht bekam.

Ob der Stalker mich von der Berufung abbringen wollte? Denn in der Wartezeit auf das schriftliche Urteil ging es so richtig los mit den falschen Briefen. Tag für Tag musste ich mich darum kümmern, erzürnte Briefempfänger aufzuklären und zu beruhigen.

Mitte November 2005 verfasste ich, also angeblich ich, einen Brief an die Stadtwerke Essen. Wegen eines Rohrbruchs hätte ich aus meinem Auto fliehen müssen. Dabei hätte ich meinen Anzug verdreckt und würde nun die Kosten für die Reinigung verlangen. In der Eile hätte ich meinen Revolver im Auto vergessen. Zudem würde ich Stimmen aus dem ausgeschalteten Radio vernehmen.

Das SEK hätte anrücken können

Der Brief war sehr gefährlich, wie ich später erfuhr. Vom Stadtwerke-Vorstand landete der Brief bei Uwe Klein, dem Pressesprecher der Polizei in Essen. Uwe meldete sich bei mir, erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand. Dann fragte er nach diesem Brief. Dreckiger Anzug? Revolver? Stimmen?

Der Stalker, erklärte ich. Uwe riet zur Anzeige. Die Sache mit der Pistole im Auto sei wirklich gefährlich. In solchen Fällen könne es passieren, dass das SEK rausrückt. „Und die machen deine offene Haustür erst zu, bevor sie reingehen“, malte er mir die Gefahr aus, die mir gedroht hatte.

Wer von einem Stalker verfolgt wird, muss immer und überall damit rechnen, verfolgt oder verleumdet zu werden.
Wer von einem Stalker verfolgt wird, muss immer und überall damit rechnen, verfolgt oder verleumdet zu werden. © picture alliance / Angelika Warmuth/dpa | Angelika Warmuth

Der Gerichtstermin am Oberlandesgericht wegen meiner Berufung rückte näher, er war für August 2006 angesetzt. Der Stalker schickte nun auch Briefe an meine Nachbarn: Ich hätte einen anstrengenden Beruf und brauchte viel Schlaf. Sie sollten bitte die Klospülung nach 21 Uhr nicht mehr betätigen. Ich lebe in einem freistehenden Haus, es ist unmöglich für mich, die Klospülung der Nachbarn zu hören. Einige Nachbarn machten eine Hörprobe, indem sie in unsere Einfahrt gingen und prüften, ob ich aus dieser Entfernung ihr Klo hören könnte. Das Ergebnis teilten sie mir in einem erbosten Brief mit.

Am 23. Juni 2006 hingen Plakate in Kupferdreh, auf denen zur „Nackt-Arsch-Party“ in meinen Garten eingeladen wurde. Adresse, Telefonnummer – alles plakatiert an Schaufenstern, Bäumen und Laternen. Anlass der Party: das WM-Spiel Deutschland gegen Schweden, bei dem wir den Schweden, so hieß es auf den Plakaten, „den nackten Po zeigen“.

Meiner Frau reichte der Stress endgültig. Sie litt unter Schlafstörungen, hatte Angst um die Kinder. Sie erstattete Anzeige. Am Tag des WM-Spiels schlief sie bei einer Freundin, ich war auf einer Dienstreise.

Am 9. August 2006 kam es endlich am OLG Düsseldorf zur Verhandlung. Der Vorsitzende, Bernhard-Rudolf Schüßler, machte schnell klar, dass Dr. Anwalt die Klage wohl verlieren werde. Alles sei von der Meinungsfreiheit abgedeckt. Schüßler riet ihm, seine Klage zurückzunehmen. Aber das wollte Dr. Anwalt nicht. Und so bekamen er und ich schriftlich, dass er auf ganzer Linie verloren hatte. Die Kosten musste er zu 100 Prozent tragen.

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Der Stalker gab nicht auf

Insgeheim habe ich immer vermutet, dass Dr. Anwalt und der Lokalreporter hinter den Briefen und Plakaten stecken. Meine Vermutung war, dass sie mich während des Rechtsstreits einschüchtern wollten, damit ich aufgebe. Nach der Theorie müsste sie jetzt Ruhe geben. Der Streit vor Gericht war mit dem Urteil am OLG geklärt. Doch der Stalker gab nicht auf.

Einmal stöberten Arbeiter von RWE durch unseren Garten. Auf meine Frage, was sie denn suchten, erzählte einer von meinem Brief: Der Teufel würde doch aus meiner Steckdose klettern und mich mit einem Säbel bedrohen. Sie müssten eben jeder Kundenbeschwerde nachgehen. Wenig später habe ich meine damals über 80 Jahre alte Verlegerin Anneliese Brost zu einem gemeinsamen Glas Rotwein eingeladen – und gestand ihr im selben Brief meine Liebe. Ich entwickelte eine gewisse Routine in der Beantwortung aufgebrachter Nachfragen, was mit mir los sei.

Dann teilte es mir die Polizei mit, etwa viereinhalb Jahre nach dem Tankstellen-Prozess: Man habe den Stalker ermittelt. Das war im März 2009. Der Leiter eines städtischen Amtes wurde ebenfalls von einem Stalker belästigt, auch in seinem Namen versendete ein Stalker Briefe. Irgendwann hatte sich bei dem Leiter der Verdacht ergeben, dass der Radioreporter der Verantwortliche war. Das war der Treffer. Die Staatsanwaltschaft bekam einen Durchsuchungsbeschluss, marschierte mit der Polizei am 5. März 2009 in seine Redaktion und in seine Wohnung: Da lagen sie – all die Briefe, die er in den letzten Jahren losgeschickt hatte.

Wer hat den Stalker finanziert?

Ich vermute, dass der Stalker auch im Auftrag gearbeitet hat, für Geld. Zumindest soll er mal auf einer Feier erzählt haben, wie leicht so eine Kampagne durchzuführen sei. Jetzt fing er an zu betteln. Um Mitleid. Hatte Angst vor der Strafverfolgung. Er schrieb mir, das sei doch alles nur ein etwas „harscher Spaß“ gewesen.

Ich nahm seine Entschuldigung nicht an. Ich erinnerte mich zu gut, wie ich nachts aus meinem Schlafzimmerfenster schaute, um nach dem Stalker Ausschau zu halten. Wie ich mich tagsüber immer umsah, ob ich ihn erwische. Wie oft ich Menschen wegen irgendwelcher Briefe um Verzeihung bitten musste.

Er wurde verurteilt, musste 5400 Euro, daneben die Prozesskosten und außergerichtlich noch ein paar Tausend Euro Schmerzensgeld zahlen. Wie er zahlen konnte, obwohl er laut Kripo in ärmlichen Verhältnissen lebte? Vielleicht hatte ja jemand für ihn gezahlt, weil er gedroht hatte, sonst auszupacken?

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