Essen. 76 Prozent der Deutschen fürchten Verlust der Selbstbestimmung im Alter – mehr als das Schmelzen der Pole, so Zukunftsforscher Horst Opaschowski.
179 Todesopfer, in Schutt liegende Eigenheime, Menschen vor dem Nichts, hinweg gespülte Straßenzüge, verwüstete Ortschaften: Die Hochwasser-Katastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat uns die Gefahr durch Extremwetter und damit auch durch den Klimawandel bedrohlich nahegebracht. Die Bilder der vergangenen Wochen werden sich in unser Gedächtnis einbrennen – und doch treibt die meisten Deutschen noch eine ganz andere Sorge um.
76 Prozent der Deutschen fürchten sich davor, im Alter selbst zum Pflegefall zu werden und die Selbstbestimmung über ihr Leben zu verlieren – während die Sorge um den Klimawandel trotz ständiger Präsenz in Fernsehen, Funk und Presse bei 72 Prozent liegt. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Umfrage, die der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski im Mai/Juni unter 1000 Personen ab 14 Jahren gemacht hat.
Horrorszenario Pflegefall
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„Neben der Sorge um gesündere Umweltbedingungen wird der Wunsch der Menschen immer stärker, gut und beschwerdefrei alt zu werden. Der Kampf gegen das Horrorszenario ,Zum Pflegefall werden‘ wird für die meisten Menschen zur Priorität Nr. 1 des Lebens. So kommt es zur Werteverschiebung vom Umweltschutz zum Pflegeschutz“, konstatiert der 80-jährige Leiter des von ihm gegründeten Forschungsinstituts.
Klimawandel und Wetterextreme seien zwar allgegenwärtig, aber subjektiv weit weg und würden daher als weniger bedrohlich wahrgenommen. Auch wenn man den Eindruck hat, die Fridays-For-Future-Bewegung und andere Umwelt-Organisationen hätten ein grundsätzliches Umdenken in der Bevölkerung in Gang gebracht, das mittlerweile auch in den großen Volksparteien angekommen ist (Bundesregierung am 4. Juni 2021: „Klimaschutz ist die wichtigste Aufgabe unserer Zeit“), steht man eigentlich erst am Anfang einer Veränderung – woran gewiss auch die Corona-Pandemie ihren Anteil hat.
„Ist das persönliche Wohlergehen gefährdet, sinkt das Interesse an Umweltfragen.“
Opaschowski: „Die ökologische Zeitenwende hat noch nicht stattgefunden. Eher droht sie, ein Opfer der anhaltenden Krise zu werden. Es bestätigen sich Erfahrungen der letzten Jahrzehnte: Ist das persönliche Wohlergehen gefährdet, sinkt das Interesse an Umweltfragen.“
Zwar sieht die Situation in der niedrigsten Altersgruppe etwas anders aus, hier sehen 70 Prozent der Teilnehmer von 14 bis 19 Jahre die Klimakrise als größte Bedrohung der Zukunft (überraschend: weniger als in den übrigen Altersgruppen) – und nur 58 Prozent denken verständlicherweise bereits in jungen Jahren an die Pflegekrise. Im Gegensatz dazu treibt die Sorge um die spätere Pflegesituation 84 Prozent der Gruppe 50plus um.
Aber natürlich werden auch die heute Jüngeren irgendwann einmal älter – und die Pflege rückt bei ihnen in den Vordergrund. „Die langlebigste Gesellschaft aller Zeiten kommt auf uns zu. Mit der steigenden Lebenserwartung werden die Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben immer dominanter. Hingegen wird der Klimaschutz zwar als globale Herausforderung, aber nicht als persönliches Herzthema empfunden“, so Opaschowski.
Gewöhnung an Klimawandel bringt Abstumpfungseffekt
Damit will der Forscher die ökologischen Herausforderungen, die auf unsere Gesellschaft zukommen, keineswegs kleinreden. Aber die damit verbundenen Themen leiden nach wie vor auch daran, dass die Zusammenhänge oft nicht unmittelbar greifbar sind. Denn ganz so einfach lässt sich der Zusammenhang zwischen Benzinverbrauch oder Fleischkonsum und Hochwasser- und Hitzekatastrophen eben nicht verstehen. Hinzu kommt ein gewisser Abstumpfungseffekt: „Die Bewältigung des Klimawandels ist seit über fünfzig Jahren eine Jahrhundertaufgabe, an die sich die Menschen gewöhnt haben. Auch in fünfzig Jahren werden wir noch vom Klimawandel reden. Mit der Gewöhnung ist eine Abstumpfung verbunden, was auch erklärt, warum die Klimakrise die Menschen in den letzten Jahren immer weniger ängstigt.“
Dabei hätten sogar Wetter-Ereignisse wie zuletzt kaum nachhaltigen Effekt, meint er: „Selbst Naturereignisse wie Rekordhitzewellen oder Flutkatastrophen werden durch ein chronisches Kurzzeitgedächtnis schnell wieder verdrängt, selbst sogenannte ,Jahrhundertfluten‘, die sich weltweit fast inflationär ausbreiten. Wir leben in einem Zeitalter der Extreme mit großen Unsicherheiten. Da haben die Menschen ganz andere Sorgen, wenn sie an sich, ihre Kinder und Enkel denken. Sie wollen weiterleben und machen sich mehr Sorgen um die Zukunft – von der Armut und Arbeitslosigkeit bis zur Rente und Pflege.“
„Pflegeschutz ist auch Menschenschutz.“
Hinzu kommt die Breitenwirksamkeit der demografischen Entwicklung. Opaschowski: „Von der Pflegekrise sind auf Dauer alle in Deutschland betroffen und nicht nur punktuell einige Krisenregionen. Dazu zählen insbesondere existenzbedrohende Kostenexplosionen. Die Bundesregierung hat die Erhöhung der Pflegelöhne per Gesetz beschlossen. Die Zeche dafür müssen mehr die Pflegebedürftigen und weniger die Pflegeversicherung bezahlen.“
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Betroffene wissen, dass die Kosten für Pflege je nach Dauer und Intensität ganze Vermögen aufzehren und auch für die nachfolgende Generation zu einer finanziell zumindest herausfordernden Frage werden kann. „Wenn die Rente zu knapp bemessen und die Pflege zuhause oder im Heim unbezahlbar wird, dann wächst die Unzufriedenheit der Bevölkerung auf breiter Ebene. Deshalb wird sich die Politik wieder mehr als Daseinsvorsorge verstehen müssen und sozial und infrastrukturell ihre Prioritäten neu setzen müssen, wenn soziale Spaltungen und Unruhen in Deutschland verhindert werden sollen. Pflegeschutz ist auch Menschenschutz. Vorsorge, Prävention, Schutz: Das werden die Schlüsselwörter in der politischen Landschaft werden.“
„Politik muss Sorgen ernstnehmen“
Dass Klimawandel und Umweltschutz auch bei den Volksparteien stärker in den Mittelpunkt gerückt sind, sieht Opaschowski nicht als wahlentscheidend an. Selbst wenn sich eine Partei die Pflege noch schnell auf die Fahne schreiben würde, ließe sich so kaum punkten. „Politiker sind wichtiger als Programme. Nur Politiker, die authentisch sind und sich ernsthaft darüber Gedanken machen, was die Menschen derzeit innerlich bewegt und beunruhigt, können Stimmungen in Stimmen verwandeln. Politiker müssen auch Mut zur Wahrheit beweisen“, meint Opaschowski. Und eine dieser Wahrheiten lautet: „Die jetzt junge Generation wird nicht mehr so gut und unbeschwert leben können wie ihre Eltern.“
Horst Opaschowski (80) gehört zu den führenden Zukunftsforschern Deutschlands, als Berater für Wirtschaft und Politik war er für mehrere Bundesregierungen tätig. 2014 gründete er gemeinsam mit seiner Tochter, der Bildungswissenschaftlerin Irina Pilawa, das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung (OIZ). Horst Opaschowski ist Autor des Standardwerks „Deutschland 2030“ (B. Budrich Verlag, 807 S., 39,99 €) und Autor und Sprecher des Hörbuchs „Semiglücklich in die Zukunft – 21 Geschichten über das Leben nach der Pandemie“ (B. Budrich, 2 Std. 22 min. 12,95 €)