Essen. Die Stimmung in Deutschland ist zuversichtlicher geworden. Zukunftsforscher Horst Opaschowski erklärt das überraschende Ergebnis seiner Studie.

Verflixt, wir stecken in der Krise – und mit uns die ganze Welt! Grund für die Deutschen, sorgenvoll in eine vermeintlich schwarze Zukunft zu sehen? Keineswegs! Zukunftsforscher Horst Opaschowski (79) befragte die Deutschen einmal kurz vor und ein weiteres Mal zu Beginn des Lockdowns – und ein drittes Mal im Juli, als die Maßnahmen gelockert wurden, nach ihrer Sicht auf die Zukunft. Es ist die erste repräsentative Studie zur bundesweiten Stimmungslage in der Corona-Krise. Eines der Ergebnisse klingt zunächst paradox: Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist deutlich gestiegen, von 79 Prozent im Januar auf 84 Prozent im Juli. Die größten Optimisten sind Familien mit Kindern, von ihnen blickten sogar 94 Prozent voller Zuversicht nach vorn. Zugleich lässt sich eine Veränderung unseres Wertesystems beobachten: Zwar steht auch die finanzielle Sicherheit weiterhin hoch im Kurs, jedoch hat die Gesundheit sie eingeholt. Georg Howahl sprach mit Opaschowski darüber, warum der Titel seiner Studie nur „Die semiglückliche Gesellschaft“ lautet – und warum wir beginnen, die Sinnfrage neu zu stellen.

Herr Opaschowski, Deutschland steckt mitten in der zweiten Corona-Welle. Und jetzt kommen Sie mit der Botschaft, dass wir alle optimistischer geworden sind. Wie passt das denn bitte zusammen?


Opaschowski Bei anhaltenden Krisen bilden sich schnell zwei Lager: Die kurzsichtigen Pessimisten, die sich von negativen Tagesmeldungen über neue Infektionen regelrecht gefangen nehmen lassen. Und die zweite Gruppe der Zuversichtlichen, die sich ihren Optimismus nicht nehmen lassen und weiterhin positiv in die Zukunft blicken will. Das sind vorsichtige Optimisten, sie sind nach meinen Repräsentativerhebungen in der Überzahl und sorgen für die relativ ruhige und besonnene Stimmung im Land.

Und diese Gruppe wird immer optimistischer?

Sieht auch einen neuen Zusammenhalt der Generationen: Horst Opaschowski, Erziehungswissenschaftler und Zukunftsforscher.
Sieht auch einen neuen Zusammenhalt der Generationen: Horst Opaschowski, Erziehungswissenschaftler und Zukunftsforscher. © Institut für Zukunftsforschung | Institut für Zukunftsforschung


Dass die Deutschen trotz Krise optimistischer geworden sind, lässt sich aus den Erkenntnissen der Glücksforschung erklären: Wenn alle Bürger gleichermaßen von den Folgen einer Krise betroffen sind, gibt es keine Prestigewettkämpfe mehr, weil alle mit sich selbst beschäftigt und weitgehend zufrieden sind. Der Blick der Optimisten ist positiv auf die Post-Corona-Zeit gerichtet. Wann sie nun auch immer kommen mag, das kann momentan noch niemand genau sagen, auch kein Zukunftsforscher.

Fühlen sich einige nicht auch alleingelassen in diesen Zeiten?

Ja, viele fühlen sich zurzeit materiell abgehängt. Es gibt ja einige Berufsgruppen, die leiden ja fast unter einem Berufsverbot. Mir macht da vor allem der Bereich von Kunst und Kultur Kummer. Aber zum Glück strahlt der Staat ja derzeit in der Corona-Krise geradezu eine soziale Wärme aus. Für die Deutschen ist das eine neue positive Erfahrung.

Sie sprechen in Ihrer Studie von einem Wertewandel, der bei den Deutschen teils schon stattgefunden hat. Wie äußert der sich?

Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung spricht sich für die „3G-Agenda“ aus, wie ich sie nenne. Es ist der Dreiklang aus: Gesundheit, Geld und Geborgenheit. Ohne Gesundheit, das sehen immer mehr ein, ist alles nichts wert. Es kommt also zu einer Verschiebung der Wertehierarchie. Das gesundheitliche Befinden entscheidet über die Lebenszufriedenheit der Menschen und ihre Teilhabe am öffentlichen Leben. Gesundheit wird sogar zum neuen Statussymbol und verdrängt die bisher dominante Konsumhaltung. Der zuvor gewohnte Konsum-Dreiklang von Shopping, Kino, Essengehen verliert an Bedeutung – vor dem Hintergrund des Klimawandels genauso wie der weltweiten Pandemie. Die Millennials, also die um die Jahrtausendwende geborenen jungen Menschen, stellen ja nicht erst seit gestern die Sinnfrage neu.

Sie beschreiben eine positive Einstellung als eine Grundvoraussetzung für langes Leben. Wäre es da nicht praktisch, wenn Ärzte und Krankenkassen dort ansetzten, quasi gute Laune auf Rezept?


Was Sie da für Ärzte und Krankenkassen vorschlagen, muss auch für die Medien gelten. Es stimmt nachdenklich, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die Medien für die Verbreitung pessimistischer Grundstimmungen verantwortlich macht. Vor allem Jugendliche nehmen negative Nachrichten als schlechte Aussichten wahr. So gesehen müssen wir uns alle in Politik, in Wissenschaft und in den Medien in die Pflicht nehmen lassen und Verantwortung übernehmen. Wir brauchen in diesen Krisenzeiten Mutmacher. Wir brauchen Problemlöser. Wir brauchen Impulsgeber. Dann kann eine Krise den Zusammenhalt langfristig festigen.

Könnten wir sogar gestärkt aus der Corona-Zeit hervorgehen?

Die Krise hat uns bereits nachhaltig verändert: Weniger Egoismus, mehr Vertrauen und Verlässlichkeit, wachsende Hilfsbereitschaft. Sie hat uns sozial sensibler gemacht, sodass ich schon die Frage stelle: Kommt nach der Pandemie die Empathie?

Wie steht’s mit der vorhin angesprochenen Geborgenheit?


Was macht ein Mensch ohne Familie? Diese Frage stellt sich in anhaltenden Krisenzeiten vor allem für die rund 18 Millionen Alleinlebenden in Deutschland. Die Familie ist längst kein Auslaufmodell mehr, sie ist der soziale Kitt, die beste und verlässlichste Lebensversicherung. Repräsentativ ist nachweisbar, dass die Familie mit Kindern das erstrebenswerteste Lebensziel für fast zwei Drittel der Deutschen ist – und das hat sich in der Corona-Krise noch verfestigt. Was den Optimismus angeht: Die überwiegende Mehrheit der Familien mit Kindern schaut weiterhin positiv und optimistisch in die Zukunft.

Aber Familie ist ja mehr als Vater, Mutter, Kind…

Es gibt eine neue Solidarität der Generationen, einen Zusammenhalt von Enkelkindern, Eltern und Großeltern. Generationenbeziehungen werden in Zukunft vielleicht sogar wichtiger als Partnerbeziehungen.

Stehen Singles in so einer Familiengesellschaft denn auf verlorenem Posten?

Wenn Menschen keine Familie haben, dann müssen sie auf Freunde setzen und die Freunde zur Wahlfamilie machen, sozusagen zur Wahlverwandtschaft. Das Problem ist derzeit, dass sich auch die Freunde zunehmend in ihre Wohnungen zurückziehen. Auf sie kann man im Grunde nicht mehr so sicher bauen. Ich habe da eine interessante Beobachtung gemacht: Die guten, die netten Nachbarn laufen den Freunden in der Krise fast den Rang ab. Sie sind einfach näher dran. Den Nachbar von nebenan im Flur wahrzunehmen, das ist für manche eine neue Entdeckung.

Dass wir „semiglücklich“ in der jetzigen Situation sind, das bedeutet also genau was?

Optimistisch sein heißt, dass man sich momentan glücklich fühlt, auch wenn man sieht, dass die Tür zum Optimismus nur einen Spalt breit offensteht. Semiglück heißt aber auch, nicht immer und unentwegt glücklich sein zu müssen.



Horst Opaschowski (79) gehört zu den führenden Zukunftsforschern Deutschlands, als Berater für Wirtschaft und Politik war er von Brandt bis Merkel für mehrere Bundesregierungen tätig. 2014 gründete er mit seiner Tochter, der Bildungswissenschaftlerin Irina Pilawa, das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung (OIZ).



Neue Studie: „Die semiglückliche Gesellschaft– Das neue Leben der Deutschen auf dem Weg in die Post-Corona-Zeit“ (Verlag B. Budrich, 166 S., 19,90 €)