Hagen. Die Hilfsbereitschaft in den von Starkregen betroffenen Gebieten ist enorm. Wer anderen etwas Gutes tut, hilft sich damit aber auch selbst.

Es war nur eine kleine Geste in diesem Chaos: Angela Merkel bot Malu Dreyer ihre Hand, damit diese sicher über den Schutt gehen konnte, den die Flutkatastrophe im Dorf Schuld hinterlassen hatte. In diesem Moment waren sie nicht Bundeskanzlerin und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, nicht Politikerinnen konkurrierender Parteien, die sich im Wahlkampf befinden.

In diesem Moment waren sie einfach zwei starke Frauen: Die eine, die aufgrund ihrer Multiple-Sklerose-Krankheit Hilfe beim Gehen benötigt, die andere, die sie ihr selbstverständlich gibt. Gemeinsam wollten sie den Flutopfern zeigen: Wir lassen Euch nicht allein!

Kleine Geste, große Hilfe: Im verwüsteten Dorf Schuld reicht Bundeskanzlerin Angela Merkel (l.) am 18. Juli Malu Dreyer (M.), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die helfende Hand.
Kleine Geste, große Hilfe: Im verwüsteten Dorf Schuld reicht Bundeskanzlerin Angela Merkel (l.) am 18. Juli Malu Dreyer (M.), Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die helfende Hand. © dpa | Christof Stache

Auch abseits der Kameras hat es in den vergangenen Tagen sehr viele Hände gegeben, die spontan helfend gereicht wurden: Nachbarn, ob in Altena oder Ahrweiler, in Mülheim oder Bad Münstereifel, die sich vielleicht sonst nur gegrüßt haben, machen sich nun ohne zu zögern dreckig, damit der Schlamm aus den Kellern kommt. „Wir haben so viel verloren“, hört man die Menschen immer wieder sagen. „Aber die Hilfsbereitschaft ist enorm.“

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Wenn der erste Schock vorüber ist

Diese motivierten Menschen hat auch Rosi Wieskus von der Notfallseelsorge der Freiwilligen Feuerwehr in Hagen erlebt: „Der erste Schock war vorüber. In dem Moment kann man nichts weiter tun als schaufeln. Und das haben sie gemeinsam gemacht“, so die 56-Jährige. „Dieser Zusammenhalt, dass wildfremde Menschen kommen und helfen, mit anpacken, gibt ein Stück weit Trost und die Kraft, weiter zu machen, weiter zu schaufeln.“

Das Helfen macht die Katastrophe nicht ungeschehen. Aber das Helfen gibt Hoffnung. „Bei einer Naturkatastrophe alles zu verlieren, und das sehr plötzlich, lässt ein immenses Gefühl des Kontrollverlustes entstehen“, erklärt Anne Böckler-Raettig, Professorin für Allgemeine Psychologie an der Universität Hannover. Schlagartig spüre man, wie verletzlich man ist, wie schnell einem alles genommen werden kann. Und das in Deutschland, in einem wohlhabenden, scheinbar sicheren Land. „Wir fühlen uns weniger ausgeliefert, wenn uns andere helfen. Aber auch wenn wir helfen und wir sehen, was Menschen gemeinsam schaffen können.“

Prof. Dr. Anne Böckler-Raettig von der Uni Hannover forscht über Hilfsbereitschaft.
Prof. Dr. Anne Böckler-Raettig von der Uni Hannover forscht über Hilfsbereitschaft. © Daniel Peter | Daniel Peter

Da werden Berge voll Sperrmüll zusammengeräumt, Wohnzimmer in Schlafplätze verwandelt, Wasser und Würstchen verteilt – die Menschen machen und machen, um sich nicht mehr ohnmächtig zu fühlen. Aber auch diejenigen, die weiter weg von den Unglücksorten leben, geben gerne. „Je ähnlicher uns die Opfer sind, sei es bezüglich ihrer Lebensumstände oder ihrer Eigenschaften, desto eher können wir uns in ihre Lage versetzen und mitfühlen“, so die Wissenschaftlerin, die über Hilfsbereitschaft forscht, über Altruismus.

Wir können nachvollziehen, was es für eine Tragödie ist, wenn zunächst nur Starkregen angekündigt wird, dann plötzlich der Keller vollläuft – und am Ende die Wand des Zuhauses einstürzt und womöglich noch einen geliebten Menschen mitreißt.

Aber es gibt mehr Gründe, warum uns das Schicksal von Opfern einer Naturkatastrophe so berührt: „Wir nehmen sie als unschuldig wahr, sie haben sich nicht bewusst in Gefahr gebracht. Das fördert die Hilfsbereitschaft“, so die 39-Jährige. Außerdem wisse man, wie man helfen kann: Menschen brauchen ein Dach über den Kopf, etwas zu Essen, Geld für den Wiederaufbau. Bei der Pandemie sei das nicht so eindeutig gewesen. Da konnte man für Nachbarn einkaufen. Aber dass man mit dem Tragen einer Maske und der Impfung zum Wohl aller beiträgt, ist nicht so leicht zu begreifen. Zumal der positive Effekt oft erst nach Monaten eintritt.

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Trotzdem schenkte anfangs auch da die Hilfsbereitschaft Hoffnung. Dann kamen Impfdrängler und Leute, die Impftermine sausen ließen. Nun gibt es in den Unglücksorten Plünderer und das Bild von einer Gesellschaft voller Egoisten wird sichtbar. Welcher Eindruck stimmt?

Denken die Menschen nur an sich?

„Beide“, sagt Böckler-Raettig. „Wir Menschen sind zutiefst egoistisch in dem Sinne, dass wir unsere Bedürfnisse befriedigen, vielleicht noch die der nächsten Familie. Und das auch, wenn es auf Kosten anderer geht. Das zeigt sich in der Art, wie wir uns ernähren, wie wir uns fortbewegen, wie wir mit der Natur umgehen.“ Gleichzeitig seien Menschen aber zu enormer Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft in der Lage. Beides sei tief in uns verwurzelt, bei kleinen Kindern könne man das schon beobachten. „Wir müssen uns um unser Wohlergehen kümmern und wir brauchen prosoziales Verhalten. Sonst können wir weder als Spezies noch als Individuum überleben.“

Rosi Wieskus von der Notfallseelsorge in Hagen.
Rosi Wieskus von der Notfallseelsorge in Hagen. © Notfallseelsorge Hagen | Notfallseelsorge Hagen

Doch wird die Hilfsbereitschaft bleiben, wenn die Bilder von den zerstörten Häusern aus den Medien verschwinden? Hilfsorganisationen warnen bereits, dass es zu wenige Ehrenamtliche im Katastrophenschutz gibt. Anne Böckler-Raettig ist da zuversichtlich: „Anderen zu helfen, ist einfach ansteckend.“

Helfen ist ansteckend

Wenn Menschen sehen, dass andere großzügig sind, dann erhöhe das die Wahrscheinlichkeit, dass sie es selbst werden. „Das Gute an prosozialem Verhalten ist, dass es für alle Seiten positive Folgen hat.“ Eben auch für die Menschen, die helfen. Weil es ihnen Freude macht, weil ihr Tun sinnvoll ist, sie sich selbst als gute Menschen wahrnehmen dürfen.

Auch Rosi Wieskus gibt ihr Ehrenamt ein gutes Gefühl: „Man tut es in erster Linie für andere. Aber man könnte sich nicht derart einbringen, wenn man nicht selber etwas zurückbekommen würde.“ Die Floristin hätte gerne bei den Überschwemmungen mehr Notfallseelsorge geleistet, den verängstigten Menschen zugehört. Aber die Straßen waren in Hagen teils unbefahrbar. Die Hilfsbereitschaft so vieler Leute rührt sie. Allerdings wüssten manche Anlaufstellen nicht mehr, wie sie die vielen Sachspenden ordnen sollen. „Genauso wichtig ist die finanzielle Unterstützung.“