Essen/Dortmund. Ker’ wat schön? Alles eine Frage der Erinnerungs-Perspektive. Ausstellungsmacher erklären, warum es im Ruhrpott einfach anders ist als woanders.
Gezz kuck sich einer die Blagen an, Ker’ wat schön!
Ja, gut und schön sogar, aber nun mal ehrlich: Sind wir eigentlich panne, oder wat? Wieso bekommen wir beim Anblick rostiger Zechen und seliger Taubenvätter beinahe Pipi in die Augen? Warum bitte sehr treffen uns diese Fotos aus einem vergangenen Jahrtausend immer noch, oder sogar immer mehr: mitten ins Herz? Ist das noch Nostalgie oder schon Folklore? Wie passen Kohlenpott-Kult und Digitalisierung zusammen? Und verliert man nicht vor lauter Rückspiegel den wichtigen Fokus auf Gegenwart und Zukunft, die ihre eigenen Bilder und Geschichten brauchen?
„Es hat immer was mit der Kindheit zu tun“
Darüber haben wir mit den Ausstellungsmachern gesprochen. Denn auch aktuell nimmt die Retro-Reise wieder Fahrt auf. So hat das Ruhr Museum, das sich ja auch als Gedächtnis der Region versteht, gerade ein neues Schaudepot auf der Kokerei Zollverein eröffnet und präsentiert parallel zum 60. Jahrestag des Anwerbe-Abkommens die Sonderschau „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“.
Etwas weiter, im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, bekommen Besucher jetzt die Chance, Fotografien aus dem Archiv des Regionalverband Ruhr zu sehen, was bei der Station im Peter-Behrens-Bau in Oberhausen aus bekannten Gründen schwierig war.
Und selbst wenn es hier visionär heißt „Die Zukunft im Blick“, dann ist die Perspektive aus der damaligen Zeit für die Region seit 1920 gemeint. Nun ist es uns aufgetragen, am Werk zu arbeiten, es ist uns aber nicht gegeben, es zu vollenden, wie der Talmud schon weissagte. Wenngleich also solche Veränderungsprozesse, wie weitsichtig sie auch angestoßen sein mögen, natürlich nie abgeschlossen sind, so bleibt doch die Zukunft von damals – das Jetzt.
Auch interessant
Doch nicht nur die Zukunft ist ja nicht mehr das, was sie mal war, auch die Probleme der Vergangenheit sind im Ruhrgebiet von heute auf fast verstörend trotzige Weise noch die Probleme von morgen: Mobilität, Mobilität und nicht zu vergessen Mobilität. Verkehrschaos – seit 100 Jahren ein Thema! Wie vernetzen wir die einzelnen Kommunen besser? So tragen die schlotqualmenden Memorabilia Titel wie „Zeche Osterfeld mit Schrottplatz, 1985.“ Oder „Autowäsche in Essen, um 1975“, stilecht mit Minirock, Fuchsschwanz und – nein, keinem Manta, aber fast – dem Ford Capri.
Komm, einer geht noch: Frau im Kittel, „Blick aus dem Fenster einer Wohnung in Duisburg-Laar auf die Industrieanlagen der August-Thyssen-Hütte, 1952.“ Das wäre auch in Farbe keinen Tacken ergötzlicher...
Und genau darum ging es in jenem September 1952! „Das war ja dokumentarische Sozialfotografie, man wollte ganz gezielt die miesen Wohnbedingungen ins Bild setzen“, erklärt Kurator Holger Klein-Wiele die erstmals entwickelte Serie. Als 50-Jähriger hat er selbst diese Zeiten gar nicht mehr miterlebt, „trotzdem kann ich mich gut damit identifizieren, da ich die Erzählungen und Erinnerungen von Eltern und Großeltern ebenfalls weiter in mir trage.“
Und das sei schon das ganze Geheimnis. „Es hat immer was mit der Kindheit zu tun. Jeder, der in dem Umfeld aufgewachsen ist, findet sich wieder. Man sagt oft, ,Mensch, das weiß ich noch’ – so wird unsere Erinnerungs-Perspektive aktiviert.“
Faszination Früher. Verklärend sei das schon, so Holger Klein-Wiele, „damals wurde schließlich noch richtig malocht – die Arbeit auf’m Pütt war nicht nur anstrengend und dreckig, sondern auch gefährlich.“ Dieses merkwürdige Gefühl der Verbundenheit, das beziehe sich auf eine gewisse Tradition, Heimat, auch Stolz. „Damals war das so.“ Anders als woanders? „So dicht wie in diesem Städteverbund, so massiv wie in dieser von der Montanindustrie geprägten Region – nirgends.“
Solange die Unter-Tage-Generation noch selbst über ihr Leben und ihre Arbeit erzählen kann, dürfe man auch von Nostalgie sprechen. „Je mehr verschwindet, desto mehr wird Folklore. Und die erfüllt auch ihren Zweck, um ein Gefühl von Heimatverbundenheit entstehen zu lassen. Letztlich geht es um die eigene Identität. Das kann man sich bei den Schotten beispielsweise auch nicht vorstellen: Ohne Folklore fehlt dann was – und da helfen die Bilder, das noch ein wenig erahnen zu lassen. Eine Rolle spielen Emotionen. Erinnerung und Identität sind stark an Emotionen geknüpft.“
Auch interessant
Damit wären wir wieder bei der Kindheit. „In den Siebzigern die Revierparks, daran kann ich mich gut erinnern, dort sind wir oft gewesen. Die Fotos lösen da schon was aus.“ Etwas Verklärung sei also erlaubt.
Findet ausdrücklich auch Theo Grütter, als Vorstand der Stiftung Zollverein und Direktor des Ruhr Museums Herr über vier Millionen Fotos aus dem Bereich Arbeit und Alltag („ein Drittel mit Wäsche auf der Leine“), einen der größten Bildschätze Europas – die unerschöpfliche Geschichte. Die sich tief ins Gedächtnis eingeschrieben habe. „Die Geschichte des Ruhrgebietes ist eine Geschichte der Arbeit. Sie war hart, gesundheitsgefährdend und voller Entbehrungen.“ Deswegen präge uns, mit gewissem Abstand, unsere Erinnerung, auf die wir uns hier überproportional fixieren, stärker als im Sauerland oder in Bayern. „Die Motivthemen sind unendlich“ – so bestückt man seit 15 Jahren den erfolgreichen „Blagen“-Kalender für den Oberhausener Asso-Verlag.
„Natürlich haben wir es mit einer permanenten Verklärung zu tun. Weil es einzigartig und authentisch war, nicht austauschbar wie heute“, sagt Grütter. Soziale Elemente wie Solidarität und Nachbarschaft waren stärker ausgeprägt. „Die Vergemeinschaftung war notgedrungen, die Arbeit im Bergwerk konnte ja nur im Kollektiv ausgeübt werden.“ Dem trauere man nach, auch wenn die Zeiten nicht besser waren, aber eben anders. Und dieses ,Anders’ ist verlorengegangen, daher verkläre man es. „Der Kitt des Ruhrgebiets ist die gemeinsame Geschichte, weniger die Gegenwart. Dieses große Erbe wirkt nach, unsere Industriekultur ist ein Mythos.“ Deswegen dürfe man sich an den alten Fotos erfreuen, ohne von gestern zu sein. „Aber die Zukunft nicht vergessen!“