Ennepetal. Ein Mann aus Ennepetal hat 1740 Wikipedia-Artikel verfasst. Aber nicht jedes Thema ist relevant, wie eine Essener Autorin feststellte.
Gereon Kalkuhl suchte den vom Erdboden verschwundenen Geburtsort seiner Uroma und fand ihn bei Wikipedia: Alsum. Die Duisburger Siedlung war im Zweiten Weltkrieg derart zerstört worden, dass sie nicht wiederaufgebaut wurde. Der Schutt wurde zusammengeschoben. Der Alsumer Berg, direkt neben dem Thyssen-Werk, das sich hier am Rhein ausbreitete, erinnert an die ehemalige Heimat von Kalkuhls Vorfahrin. Der 52-Jährige war angetan von dem, was er bei Wikipedia darüber las. Mehr als er in jedem Lexikon dazu finden konnte. Seine Neugier auf das Projekt Wikipedia war geweckt: „Ich habe gesehen, jeder kann da Artikel schreiben.“ Wirklich jeder? Und über jedes Thema?
Wikipedia wird 20 Jahre alt – die englischsprachige Version der freien Enzyklopädie ging am 15. Januar 2001 online, die deutschsprachige Wikipedia am 16. März 2001. Der US-Unternehmer Jimmy Wales und der Philosophie-Doktorand Larry Sanger hatten sie gegründet. Ihre Vision: Das Wissen der Welt für alle Menschen zugänglich zu machen. Lange Zeit belächelten die Chefs von Lexika-Verlagen dieses Vorhaben. Sie sollten sich irren. Mittlerweile gibt es Britannica oder Brockhaus auch nur noch online. Und auf Wikipedia stehen nach eigenen Angaben rund 53 Millionen Artikel in mehr als 290 Sprachen.
Jeder kann bei Wikipedia mitschreiben. Wirklich jeder?
Das Besondere: Nicht nur Akademiker schreiben die Texte. Ob ein Professor oder ein Schüler, ein Handwerker oder ein Millionär – jeder kann ein Wikipedianer werden, wie sich die Autoren auch nennen. Zumindest theoretisch. Denn ein paar Regeln gibt es schon. Und was relevant ist, das schreibt die Wikipedia-Gemeinde vor. Kontrolliert von so genannten Administratoren. Damit ist nicht jeder einverstanden... Aber dazu später mehr.
Relevant ist zum Beispiel die „Polymerase-Kettenreaktion“. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, um Erbsubstanz, also DNA, außerhalb eines lebenden Organismus' künstlich zu vervielfältigen. Der US-Biochemiker Kary Mullis erfand sie und bekam dafür den Nobelpreis für Chemie. „Es ist der allererste Artikel der deutschsprachigen Wikipedia“, sagt Gereon Kalkuhl. „Dabei hat man am Anfang gedacht, dass das nicht mal ein Jahr hält.“
Seine Lieblingsthemen: Schachspieler, Asteroiden, Bürgermeister und Insekten
Seit seiner Alsum-Entdeckung hat Gereon Kalkuhl 1740 Artikel für Wikipedia geschrieben. Der erste, Anfang 2007, handelte von dem Dänen Curt Hansen. „Er war zu dem Zeitpunkt der beste Schachspieler. Mich hat es gewundert, dass es keinen Artikel über ihn gab.“ Also schrieb er – und der Beitrag verschwand. Denn Kalkuhl hatte nicht alles richtig gemacht, wie ihm sogleich ein erfahrener Wikipedianer mitteilte. Übel nahm er es ihm nicht, im Gegenteil. Von nun an wusste Kalkuhl, dass er zum Beispiel die Position der Weltrangliste eines Schachspielers nicht tagesaktuell ohne zeitliche Einordnung benennen sollte.
Wovon handeln denn die vielen anderen Beiträge, die er geschrieben hat? „Das sind ganz viele Schachspieler, aber auch ganz viele Asteroiden, Bürgermeister und Insekten.“ Eine interessante Mischung. Was haben die alle miteinander gemein? „Das sind Themen, für die ich mich interessiere“, sagt der studierte Simultan-Dolmetscher für Englisch und Spanisch, der heute als Sekretär tätig ist. Während andere nach getaner Arbeit müde aufs Sofa fallen, dreht er erst richtig auf.
Der Mann aus Ennepetal malt und musiziert, er ist im Schachverein und für die Grünen im Stadtrat. Und er sitzt zwei, drei Stunden täglich an einem Wikipedia-Beitrag. Woher nimmt er die Energie? „Es macht mir Spaß, zu recherchieren und zu schreiben. Das ist für mich die Entspannung“, sagt Gereon Kalkuhl, der sich natürlich auch über Feedback freut und dass immer mehr Menschen seine Artikel lesen. Außerdem lerne er beim Verfassen der Beiträge mehr, als wenn er selbst nur ins Internet schauen würde.
Für jede Information sucht er eine Quelle
„Wenn ich einen Artikel schreibe, muss ich eigentlich alles lesen, was je darüber geschrieben wurde.“ Im Netz oder aber auch in den guten alten Büchern, die er sich über Fernleihe bestellt. „Ich gucke, woher die Information stammt, und vergleiche die Quellen.“ Die sind wichtig, betont Kalkuhl. Denn nur Sachverhalte, die sich belegen lassen und auf die er in den Fußnoten verweist, dürfe er verwenden.
Für die vielen Texte erhält er keinen Cent, alle Wiki-Autoren arbeiten ehrenamtlich. Die Spenden, die die Verwaltungsorganisation „Wikimedia" einsammelt, sichern die Infrastruktur, denn Wikipedia verzichtet bis heute auf Werbung, um möglichst neutral zu bleiben. Einfluss auf die Inhalte nehme Wikimedia nicht, so Kalkuhl.
Die Schwarmintelligenz drückt die Fehlerquote
Er ist davon überzeugt, dass die Fehlerquote bei Wikipedia gering ist, aufgrund der Schwarmintelligenz: „Wenn bei Wikipedia ein Fehler ist, dann sehen das 100.000 Leute, 10.000 fällt der Fehler vielleicht auf, 1.000 denken sich, da müsste man etwas tun, 100 wissen, wie es geht, und 10 korrigieren es – und zwar in Sekundenschnelle.“ Studien, bei denen klassische Enzyklopädien mit Wikipedia verglichen wurden, bestätigen seine Einschätzung zur geringen Fehlerquote.
Aber Hand aufs Herz: Wenn er sich in ein Thema neu einlesen möchte, würde er einem Wikipedia-Beitrag absolut vertrauen? „Wenn ich das so machen würde, hätte ich Wikipedia falsch gelesen“, sagt Kalkuhl. „Es ist ein Startpunkt, um grob einen Überblick zu bekommen. Und dann kann ich ganz unten bei den Einzelnachweisen weitergucken.“
Plötzlich hatte der Freiherr zu Guttenberg einen Vornamen mehr
Einer der berühmtesten Fehler in der deutschsprachigen Wikipedia trägt den Namen „Wilhelm“. Ein Scherzbold hatte ihn unter all die vielen Vornamen des damaligen Wirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg gemogelt – und viele Medien kopierten ihn. Das ist heute eine witzige Anekdote, vergleichsweise harmlos zu dem, was John Seigenthaler erleben musste: In dem Wikipedia-Beitrag über den US-Journalisten wurde er fälschlicherweise in Verbindung gebracht mit den Morden an John F. Kennedy.
Entdeckt ein Wikipedianer eine falsche Behauptung, dann wird er sie in der Regel löschen. Aber wie sieht das bei Sachverhalten aus, bei denen Menschen verschiedene Ansichten haben? Gereon Kalkuhl nennt ein Beispiel: „Ist die AfD jetzt rechtsradikal, rechtspopulistisch, konservativ oder subversiv? Da gibt es unterschiedliche Meinungen und die wollen die Leute natürlich auch sehr stark durchdrücken.“ Bei einem Streit kann schon mal ein erfahrener Wikipedianer entscheiden, einer von rund 190 ehrenamtlichen Administratoren in Deutschland, einer wie Gereon Kalkuhl: „Es soll natürlich immer ein Kompromiss gefunden werden, wenn möglich im Dialog.“ Aber wenn das nicht möglich sei, wenn zu viel randaliert werde, könne er einen Artikel auch für die Bearbeitung sperren.
Autorin rief den Tag der Putzfrau aus
Wobei eigentlich das Gegenteil die Grundidee von Wikipedia ist: Jeder kann mitschreiben. Das dachte sich auch die Essener Autorin Gesine Schulz im Jahr 2004. Sie entdeckte eine schier endlose Wikipedia-Liste zu Gedenk- und Aktionstagen. Selbst der Tag des Deutschen Butterbrotes war – und ist auch heute noch - dort verzeichnet. „Meine Güte, was es alles gibt“, dachte sie sich und zugleich: „Die Putzfrau hätte eigentlich auch einen Tag verdient.“
Gesine Schulz‘ Krimifigur Karo Rutkowsky ist nicht nur eine erfolgreiche Detektivin, sondern auch eine schwarzarbeitende Putzfrau. Nach Lesungen sprachen echte Reinigungskräfte die Autorin an, erzählten von ihrer harten Arbeit, klagten, wie wenig Zeit sie dafür hätten. „Wenn man nachdenkt, wo wir wären ohne Putzkräfte, gerade in Krankenhäusern“, sagt die 68-Jährige heute.
Ein weiterer Eintrag auf der langen Wikipedia-Liste - er wurde gelöscht
Der Gedanke, die Putzfrau zu ehren, ließ sie nicht los. Und so recherchierte sie, wie man einen Gedenktag ins Leben ruft. „Da habe ich festgestellt, dass das eigentlich jeder machen kann, die UNO oder ein Berufsverband. Dann saß ich an meinen Schreibtisch und dachte, na gut, dann rufe ich jetzt den Tag der Putzfrau aus. Ich habe es laut ausgesprochen, immerhin.“ Und dann ergänzte sie die Wikipedia-Liste am 8. November - der Geburtstag ihrer Romanfigur Karo Rutkowsky - um einen neuen Gedenktag: Der internationale Tag der Putzfrau.
Ihr Eintrag wurde gelöscht. „Jemand hatte es wohl für einen Scherz gehalten“, so Gesine Schulz. Sie ergänzte die Liste erneut. Das Spiel ging noch einmal von vorne los. Dann stolperte ein Journalist aus Süddeutschland, der über Gedenktage einen Artikel schreiben wollte, über den Eintrag und wunderte sich, dass Reinigungsfirmen noch nie davon gehört hatten. Aber das sollte sich bald ändern.
Eine reinweiße Rose für die Putzfrau
Weitere Medien griffen das Thema auf. „Sarah Kuttner hat am Ende einer Sendung im Studio die Putzfrau aus den Kulissen gezehrt und ihr eine Rose überreicht“, erinnert sich Gesine Schulz. Natürlich eine reinweiße Rose. „So hat sich das dann verbreitet.“ Gesine Schulz bekam viele Interview-Anfragen. Ob der Putzmann denn auch berücksichtigt werde? Aber natürlich. „Es ist so wie bei uns Frauen sonst, die auch immer mitgemeint sind.“
Heute ist der Hinweis auf diesen Aktionstag bei Wikipedia lediglich bei dem Beitrag über ihre Person zu finden. Gesine Schulz verfolgte damals die Diskussion hinter den Kulissen: Sie habe den Tag lediglich bei Wikipedia ausgerufen, er gehöre gelöscht. Aber was ist mit dem großen Echo? Doch es blieb dabei: Trotz des Erfolgs verschwand der Eintrag 2009. Gesine Schulz ist verärgert: „Manche sind da nicht sehr frauenfreundlich.“
Wikipedia legt mit Relevanzkriterien fest, was wichtig ist
Ist das so? Die Autorin Theresa Hannig aus Bayern sieht es jedenfalls genauso. Sie hatte eine „Liste deutschsprachiger Science-Fiction-Autorinnen“ erstellt. Im März 2019 gab es einen Löschantrag. Das Urteil: „überflüssig“. Dabei gibt es Listen bei Wikipedia, die anscheinend durchaus als relevant erachtet werden, wie diese: „Liste der Bewohner Entenhausens“, „Liste der Nokia-Mobiltelefone“, „Liste der Levi‘s-Jeansmodelle“ oder „Liste der Schönheitswettbewerbe für Frauen in Deutschland“.
Natürlich muss es Grenzen geben, aber wer legt sie fest? Kalkuhl: „Man hat sich irgendwann darauf geeinigt, welche Themen relevant sind für einen Wikipediaeintrag und welche eher nicht.“ Er verweist auf die Relevanz-Seite „Wikipedia:Relevanzkriterien“. Dort steht zum Beispiel, dass nur Bürgermeister von Kommunen mit über 20.000 Einwohnern relevant sind.
Nur wenige Frauen schreiben für Wikipedia
Was bei Wikipedia erscheint, entscheiden vornehmlich Männer. Da die Wikipedianer alle anonym schreiben, gibt es nur Schätzungen, wie hoch der Frauenanteil ist. Er liegt laut Kalkuhl lediglich bei etwa 14 Prozent. Theresa Hannig schloss sich mit anderen Autorinnen zusammen, für die Online-Petition #wikifueralle. Sie kämpfte öffentlich dafür, dass Frauen auf Wikipedia mehr berücksichtigt werden. Ihre Liste zu den deutschsprachigen Science-Fiction-Autorinnen ist wieder online.
Aber auch heute noch handeln nur 16 Prozent der Biografien in der deutschsprachigen Wikipedia von Frauen. Mittlerweile gibt es einige Wikipedia-Projekte, die sich speziell an die weibliche Bevölkerung richten und sie zum Mitschreiben einladen: „Women in Red“ - und der deutsche Ableger „Frauen in Rot“ -, „WomenEdit“ oder „Frauen in der Politik“.
Einladung, über weibliche Persönlichkeiten zu schreiben
Ein schwedisches Projekt liegt Gereon Kalkuhl besonders am Herzen: „WikiGap“. Zum Weltfrauentag am 8. März 2018 fanden Schreib-Workshops in den 98 Botschaften des skandinavischen Landes statt. Kalkuhl reiste nach Ruanda und zeigte zusammen mit der schwedischen Botschafterin 40 Frauen in der Hauptstadt Kigali, darunter Schülerinnen und Regierungsbeamtinnen, Professorinnen und Bloggerinnen, wie man für Wikipedia schreibt. „Sie haben zum ersten Mal über ruandische Frauen geschrieben.“
In der Aufzählung der Relevanzkriterien, die genauso trocken geschrieben ist wie alle Texte des Online-Lexikons, hat mal ein Wikipedianer Humor bewiesen. Ein Foto zeigt ein kleines Kaninchen, das über ein großes Hindernis springt. Dazu steht der Satz: „Für über 99 % der Bevölkerung unüberwindbar: die Relevanzhürde.“