Duisburg. . Bergmann und Theologe Robert Lendzian hat den Alsumer Berg in Duisburg wachsen gesehen – und erinnert sich daran, was der Hügel einst begrub.
Als Robert Lendzian ein Junge war, besuchte er regelmäßig seine Tante in Alsum. Damals dachte noch keiner an den Alsumer Berg. An seiner Stelle standen Ziegelsteinhäuser, „mit kleinen Gärten“, erinnert sich der 79-Jährige. Die Menschen pflanzten dort Gemüse. „Es war ja nicht viel, was die Männer verdient haben.“ Ganz früher war Alsum ein Fischerdorf direkt am Rhein. Einen Hafen gab es auch. Doch die Industrie rückte immer näher. Später baute die August-Thyssenhütte eine „dicke Gasleitung durch die Häuser“, erzählt Lendzian. Sie bohrte sich durch die Schlafzimmer im zweiten Stock, während die Menschen nunmehr im Erdgeschoss wohnten. Doch das Schlimmste stand ihnen noch bevor.
Die Industrie um Alsum war ein Angriffsziel im Zweiten Weltkrieg. Die Bomben zerstörten den Ort vollends. Robert Lendzian starrt auf die Kokerei Schwelgern am Fuße des Alsumer Bergs, aus dessen Nasslöschturm eine Wasserdampfwolke in den Himmel aufsteigt. Seine sonst so kräftige Stimme klingt gedämpft: „Am 14. Oktober 1944 war der große Angriff auf die Thyssen-Hütte.“
Lendzian macht eine ausschweifende Armbewegung: „Das war alles Alsum“, und fügt hinzu: „Davon ist nichts mehr geblieben, kein Strauch, kein Baum, kein Haus. Alles weg.“ Er war an dem Tag zuhause im benachbarten Walsum. „Bei uns aufs Haus ist eine Brandbombe gefallen.“ Der Keller, lediglich mit Holzstempeln gestützt, rettete die Familie. Doch nur über ein Loch in der Wand gelangten sie zum Nachbarhaus in die Freiheit.
Während anderorts wieder aufgebaut wurde, ließ die Stadt Duisburg die letzten Alsumer Bewohner in andere Stadtteile umsiedeln. „Der Schutt von den kaputten Häusern wurde hier abgelagert, dann nur noch Müll“, sagt Lendzian. „Ich habe gesehen, wie der Berg gewachsen ist.“ Er erinnert sich an die Jugendlichen, die oben auf dem Hügel den Müll durchsuchten, um etwas zu finden, das sie beim Schrotthändler zu Geld machen konnten.
Nach der OP wachte der Vater nicht mehr auf
Robert Lendzian war neun, als sein Vater starb. Der war Dreher und musste deshalb nicht in den Krieg. „Auf der Hütte war er unabkömmlich.“ Doch nach der OP an einem Zwölffingerdarm-Geschwür wachte sein Vater nicht mehr auf. „Da war mein jüngstes Geschwisterchen noch kein Jahr alt.“
Seitdem arbeitete Robert Lendzian, das älteste von sechs Kindern: „Kohle suchen, Holz suchen, beim Bauern Kühe hüten, im Garten arbeiten . . .“ Er sah die alten Kumpels: „Hager, Lumpen an, schwarz wie die Nacht.“ Er sah, wie sie „elendig gestorben“ sind: „Husten, Staublunge – da war mir klar, auf dem Pütt fängst du nie an. Nie!“
Es sollte anders kommen.
In seinem letzten Schuljahr lernte er im Unterricht die Berufe kennen. Schlosser oder Bäcker: Im ersten Lehrjahr sollte er 12 DM im Monat verdienen. Und dann erfuhr er, wie viel er als Bergmann bekommen würde. „94 DM im ersten Lehrjahr!“ Die Mutter habe für die ganze Familie gerade mal 140 DM Rente erhalten. „Mit Speck fängt man Mäuse“, sagt Lendzian schmunzelnd. 42 Jahre arbeitete er auf dem Pütt.
„Als Bergmann war ich der Haupternährer.“ Von den fünf Tonnen Kohle, die er im Jahr als Deputat bekam, verkaufte er zwei. „Da konnte uns die Mutter etwas zu Weihnachten kaufen – Anziehsachen.“ Er selbst bastelte gerne, reparierte die Puppenstube der Schwester, das Holzpferd des Bruders. „Und wenn sie dann Heiligabend glücklich waren – was wolltest du mehr?“
Schon früh fand Lendzian Halt in der Kirche und traf sich mit der „Christlichen Arbeiterjugend“. Später wurde er Kommunionshelfer und brachte den Kranken, die es nicht mehr in die Kirche schafften, das Abendmahl. „Das Echo war so wunderbar. Die Leute haben sich so gefreut. Ich hatte das Gefühl, hier kannst du mehr erreichen.“ Und so fing er Anfang der 70er ein Fernstudium der Theologie an.
Von 5 bis 5 auf dem Pütt
Tagsüber fuhr er auf der Zeche Walsum ein. „Um fünf war ich auf’m Pütt und um fünf immer noch.“ Dann kam die Familie dran, der Kleingarten. „15 Minuten habe ich mich in der Küche auf der Eckbank ausgeruht.“ Dann hat er studiert, von 22 bis 1 Uhr, bis 2 Uhr. Viertel nach vier ging der Wecker. „Das klingt verrückt. Ich weiß selbst nicht, wie ich das mit so wenig Schlaf geschafft habe. Aber es hat geklappt.“ Und das sagt Robert Lendzian wie es Menschen tun, die nicht auf Anerkennung hoffen, sondern in sich ruhen. 1975 wurde er in Münster zum Diakon geweiht.
Sein Lächeln zeigt Herzenswärme. Sein Blick strahlt Lebenszufriedenheit aus. „Die hat mir der liebe Gott geschenkt“, sagt er bescheiden. „Mein Glaube hat mir Kraft gegeben, in schwierigen Situationen mit mir selbst, mit Menschen.“ Und dann fügt er hinzu: „Ein Leben nur aus Freude gibt es nicht.“
Robert Lendzian steht am Gipfelkreuz des Alsumer Bergs, das ihn an das alte Fischerdörfchen erinnert, und schaut in die Ferne, über den Rhein hinweg zum Kraftwerk und dem übriggebliebenen Förderturm der Zeche Walsum. Der Pütt war seine Gemeinde. „Sie kannten mich alle vorher schon und wussten, aus welchem Stall ich komme.“ Er traute Paare, taufte die Kumpels der Kinder, beerdigte die Eltern. Katholischer Priester wollte er nicht werden. Als Diakon konnte er seinem alten Beruf weiter nachgehen. Das gefiel ihm. Er war sofort da, wenn ihn die Kumpels brauchten. Wenn sie krank wurden. Oder Ärger mit Vorgesetzten hatten. Noch heute leiht er ihnen sein Ohr, wenn sie es möchten. „Die Türken haben mich als ihren ,Imam’ bezeichnet“, sagt Lendzian lachend. „Das fand ich prima.“
Das Bergematerial der Zeche Walsum
Seine Frau Anita hat das alles mitgetragen. „Sonst wäre das nicht gegangen.“ „Meine Regierung“, nennt er sie mit einem schelmischen Lächeln. Seit 57 Jahren sind sie verheiratet. Weihnachten feiern sie mit ihren drei Kindern, sechs Enkeln und zwei Urenkeln.
Er selbst bekommt große Augen wie ein kleines Kind, wenn er von den technischen Entwicklungen erzählt. „Es ging immer weiter aufwärts.“ Und mehr und mehr ersetzten Maschinen die Menschen. 2008 schloss die Zeche Walsum. 15 Jahre, nachdem Lendzian dort aufgehört hatte zu arbeiten. „Das ist traurig, es verbindet einen ja sehr viel damit.“ Eigentlich müsste neben der ehemaligen Zeche eine riesige Bergehalde stehen. Aber der Abraum landete im Rhein, wenn der Fluss abgesackt war. Oder am Ufer, das die Industrie ausgekiest hatte. Und weitere Steine aus dem Walsumer Bergwerk brachte man in die Niederlande, erinnert sich Robert Lendzian: „Zur Landgewinnung“.