Mülheim. Gefängnis und Folter erlitt Alexander Wiegand, weil er als Fluchthelfer 120 Menschen befreit hat. Ein echter Thriller aus dem Kalten Krieg.

Ein paar Steinwürfe vom Rhein-Ruhr-Zentrum entfernt verläuft im Mülheimer Stadtteil Heißen der Kantweg. Dort, in einem zweiten Stockwerk, begrüßt uns ein freundlicher älterer Herr. Im Wohnzimmer hängen Fotos von den Kindern. Auf dem Schränkchen glänzt das Bundesverdienstkreuz am Bande. Spannend wird es, als uns der Mann eine alte Stichsäge und einen grauen Werkzeugkoffer zeigt. Mit diesen Instrumenten hat er deutsche Zeitgeschichte geschrieben.

Alexander Wiegand alias „Horst Herder“ hat, als Deutschland geteilt war, 120 Menschen zur Flucht in den Westen verholfen. Oder waren es 130? Genauere Zahlen gibt es nicht. Oft hat er ja nicht mal Namen der Geflüchteten erfahren. Sicher ist nur: Die Touren von Ost nach West zwischen 1968 und 1973 waren lebensgefährlich. „Mulmig“ sei es ihm hier und da gewesen. Aber Angst? Er habe „Gottvertrauen“ gehabt, Und: „Ich habe den Landsleuten etwas Gutes tun wollen.“

600 „Republikflüchtige“ starben in den Todesstreifen

Abenteuerlicher Fluchtversuch: Der syrische Kaufmann Alfine Fuad zeigt, wie er seine zukünftige Frau Elke Köller (hinten) und deren Kinder Thomas (vorn) und Heike (Mitte) in seinem Wagen über den Checkpoint Charlie nach Westberlin geschmuggelt hat.
Abenteuerlicher Fluchtversuch: Der syrische Kaufmann Alfine Fuad zeigt, wie er seine zukünftige Frau Elke Köller (hinten) und deren Kinder Thomas (vorn) und Heike (Mitte) in seinem Wagen über den Checkpoint Charlie nach Westberlin geschmuggelt hat. © dpa Picture-Alliance / Chris Hoffmann

Bis zum Abend des 9. November 1989, vor jetzt 31 Jahren, zog sich eine 1400 Kilometer lange Grenzlinie durch Deutschland und durch Berlin, gespickt mit Stacheldraht und Minen und bewacht von bewaffneten Patrouillen. Mehr als 600 „Republikflüchtige“ starben in den Todesstreifen. Weit mehr büßten den Fluchtversuch mit langer Haft. Dennoch: Es gab Menschen, die in den Zeiten des Kalten Krieges den Eisernen Vorhang austricksten. Als Flüchtlinge, Spione – und Fluchthelfer wie Alexander Wiegand.

Der 78-Jährige erzählt uns seine ganz persönliche Geschichte. Wie er Mitte der 1960er Jahre als Lkw-Fahrer für die „Berliner Speditionsgesellschaft“ Ost-West-Frachten erledigen musste. Wie ihn das Grenzregime, der harsche Ton dort und die peniblen Kontrollen geärgert haben. Wie ein Freund in Solingen sagte, er würde gerne mal mitfahren und wie sie einen kleinen Ausflug in den Ostteil Berlins gemacht haben. Der Freund hat dort die blonde Ilona kennengelernt. Vier Monate später stand Walter mit der Bitte in der Tür: Kannst du die Ilona rüberholen? Alexander Wiegand sagte: Ja.

Schüsse auf der Transitstrecke bei Helmstedt

Im Fotoalbum bewahrt Wiegand die Bilder von den Umbauten auf, mit denen er die Flüchtlinge schmuggelte.
Im Fotoalbum bewahrt Wiegand die Bilder von den Umbauten auf, mit denen er die Flüchtlinge schmuggelte. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

1968 ist keine ungefährliche Zeit im Kalten Krieg. Sieben Jahre nach dem Mauerbau in Berlin überraschen die Sowjets den Westen mit einem nächsten Gewaltakt. Ihre Truppen marschieren in der Tschechoslowakei ein und beenden die Reformen des „Prager Frühling“. Alexander Wiegand baut in seinen Büssing-Lkw mit vorhandenem Werkzeug einen Hohlraum zwischen Fahrersitz und Motorblock. Da kann Ilona hineinklettern. Sie hält sich am Gestänge der Kupplung fest. Auf der Transitstrecke bei Helmstedt bemerken DDR-Posten noch eben den beginnenden Fluchtversuch und feuern auf die Fahrerkabine. Aber ihr Schuss trifft nicht. Alexander Wiegand sieht es heute so: „Wir haben das Mädchen rübergeholt. Alles wunderbar geklappt!“

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Der Tag in Helmstedt 1968 ist der Moment gewesen, in dem er seine Berufung erkannt hat. „Ich habe mir überlegt: Wie kann ich weiter helfen?“ Die Zeitungen im Westen berichteten über seine Fluchthilfe – ohne Foto, ohne Namen. Doch die waghalsige Sache sprach sich herum. Einem DDR-Grenzer besorgte der 27-Jährige ein Teil für dessen Uralt-Mercedes und gewann so einen Freund für Informationen und fürs Leben. Auf Parkplätzen der Transitstrecke fragten sie ihn: „Nehmen Sie mich mit?“ Ein „Dr. Lutze“ vom Auswärtigen Amt bat ihn, die Nichte Lisa mit ihrem kleinen Kind rüberzuholen. Kurz darauf erhielt Wiegand einen Pkw mit Diplomatenkennzeichen, sagt er, und einen Pass auf einen anderen Namen. Jetzt hieß er Horst Herder.

Fast jede Woche schleuste er Flüchtlinge über die Grenze

Seine Fracht in dieser Zeit: Aluminium für Hagen. Metallabfälle zur Entsorgung ins Rheinland. Dazwischen: Menschen, sichtgeschützt untergebracht im vergrößerten Kombi-Tank oder hinter der doppelten Wand der Ladefläche und abgeschottet durch Glaswolle. Als Lkw-Fahrer Herder, manchmal auch im vorausfahrenden Pkw, leistete er „fast jede Woche“ Fluchthilfe. Westdeutsche „Behörden“, so sagt er und nennt da auch den Bundesnachrichtendienst, waren über jede Tour informiert und haben nach der Ankunft im Westen die Geflüchteten zur Erstunterbringung abgeholt.

Bekannt durch seine Unterwasser-Flucht: DDR-Flüchtling Bernd Böttger hat mit einem im James-Bond-Stil gebauten Unterwasserfluchtgerät den Weg aus der DDR durch die Ostsee bis zum dänischen Feuerschiff
Bekannt durch seine Unterwasser-Flucht: DDR-Flüchtling Bernd Böttger hat mit einem im James-Bond-Stil gebauten Unterwasserfluchtgerät den Weg aus der DDR durch die Ostsee bis zum dänischen Feuerschiff "Gedser Rev" geschafft. © dpa Picture-Alliance / Lothar Heidtmann

Es gab in jenen Jahren Berufs-Fluchthelfer. Richtige Firmen waren das. Bis zu 80 000 D-Mark kassierten sie manchmal für den Transport. Wiegand sagt, er habe nie Geld verlangt und nie Geld bekommen. Dabei ist sein Job nicht selten dramatisch verlaufen. Einmal hat er vergessen, die Nische mit den zwei Flüchtlingen zu verschließen – und atmete durch, als die Grenzpolizisten, warum auch immer, ihre Kon­trolle mit den Unterboden-Spiegeln abbrachen. Als es ein andermal extrem kritisch wurde, kaperte er nahe der Kontrollrampe einen fremden Lkw und schleuste damit und mit einem ahnungslosen Fahrer am Steuer Flüchtlinge in den Westteil Berlins. Der Übertölpelte habe getobt.

Václav Havel als Knastgenosse

Im fünften Jahr ist die Glückssträhne gerissen. Wiegand hatte frühzeitig Fluchtrouten verändert. Er mied jetzt deutsch-deutsche Transitwege und Übergänge. „Die Tschechen sind lockerer“, dachte er. Ausgerechnet an deren Grenze aber kommt es 1972, an einem späten Abend im April, zum Showdown: Acht Flüchtlinge auf Westkurs, darunter eine Tierarzt-Familie, hocken auf der Ladefläche des Mercedes-Lkw, als dem Fluchthelfer am Übergang Eger/Schirnding nach Bayern irgendein ein Stempel fehlt. Er muss alleine rüber zum deutschen Kontrollpunkt, um den fehlenden Aufdruck zu besorgen. Kaum ist er weg, verliert eine auf der Ladefläche versteckte Schwangere die Nerven. Sie schreit. Der Fluchtversuch fliegt auf. Und Wiegand? Fesseln. Schläge. Die Festnahme.

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Vier Jahre Gefängnis und Folter folgten. 395 Tage Dunkelhaft im „Bärenzwinger“, einer Zehn-Quadratmeter-Zelle, in dem ihm tagsüber das Sitzen ebenso verboten wurde wie Selbstgespräche zu führen. Auch drei Monate in Bautzen, dem DDR-Sondergefängnis, bewacht von der Staatssicherheit. Deren Schergen misshandelten ihn körperlich. „Die Spuren sind noch da“. Übrig bleibt eine Nervenkrankheit. Bis heute. Und doch auch dies: Wiegand hat im Prager Knast Schauspiel gelernt. Beigebracht hat ihm das ein Knastgenosse namens Václav Havel, später Tschechiens erster freigewählter Staatspräsident...

„Ich bin Hans-Dietrich Genscher. Sie sind frei.“

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So verrückt, wie sein Fluchthelfer-Dasein abgelaufen ist, erlebt er auch das Ende. Wiegand hat sich über einen Bekannten 5000 D-Mark besorgt, das Geld im Darm versteckt und den Gefängnis-Arzt bestochen. Der spritzt ihm das Nervengift Plaegomasin, was wie erhofft zur teilweisen Lähmung führt. Wiegand schmiert auch Aufseher Oldrich, der einen Brief über seine „Erkrankung“ zur bundesdeutschen Botschaft in Prag schmuggelt. 1976 wird der Mülheimer zum Flughafen Rusin gefahren, wo ein Mann steht, den er kennt. Der Außenminister sagt: „Ich bin Hans-Dietrich Genscher. Sie sind frei.“

Alexander Wiegand alias Horst Herder, der weit mehr als einhundert Menschen zur Flucht verhalf, erhält bis heute keine Sonderrente für seine Haftzeit. Die wird nur für Haft in der ehemaligen DDR bezahlt, nicht in der ehemaligen CSSR. Belege für die Zeit in Bautzen gibt es nicht. Anderes ist ihm aber wichtiger: „Das mit den Grenzen darf nicht mehr passieren.“

>>>Noch mehr Bautzen-Häftlinge aus dem Ruhrgebiet

Das Schicksal Bautzen teilt Alexander Wiegand mit anderen, die aus dem Ruhrgebiet stammen oder hier zuletzt lebten. Wie Günter Strauch, der 2017 in Oberhausen starb. Er war Agent der Organisation Gehlen, Vorläufer des BND. Der Ingenieur war in die Bauplanung des DDR-Verteidigungsministeriums in Strausberg und mehrerer Militärprojekte eingebunden. Aus Aufzeichnungen, die er 2012 für einen Freund aufschrieb und die uns vorliegen, geht hervor, dass er in den 50er Jahren Informationen über verbotene „Chemiewaffen südöstlich von Berlin“ lieferte. In DDR-Haft seit ‘58 wurde er ‘64 freigekauft. Wilhelm von Ackern alias Bruck, in Essen geboren, führte für die West-Spionage 19 Agenten im Osten. Die Stasi kidnappte ihn ‘55. Van Ackern wurde zu Lebenslang verurteilt, später freigekauft. Stasi-Chef Mielke hatte vor dem Prozess gewarnt: „Wenn du erzählst, wie wir dich geholt haben, machen wir dich einen Kopf kürzer!“ Keine leere Drohung: Zwei Mitangeklagte starben unterm Fallbeil. Ottomar Ebert aus Essen enttarnte zwei Agenten der DDR, die die Kernforschungsanlagen in Jülich und Karlsruhe ausspioniert hatten. Möglicherweise hat er als „Jack“ den Prager Reformer Dubcek vor dem Einmarsch des Warschauer Paktes ‘68 gewarnt. Sicher ist das nicht. Ebert saß 13 Jahre in Bautzen, davon sieben Jahre isoliert in einer fensterlosen Zelle, bevor er freigekauft wurde.

Der Bau der Berliner Mauer

Volkspolizisten und Arbeiter der DDR beim Errichten der Berliner Mauer am 06.10.1961 im Norden Berlins an der Grenze zum westberliner Bezirk Reinickendorf.
Volkspolizisten und Arbeiter der DDR beim Errichten der Berliner Mauer am 06.10.1961 im Norden Berlins an der Grenze zum westberliner Bezirk Reinickendorf. © dpa
Arbeiter erhöhen die Sektorensperre an der Bernauer Straße in Berlin im August 1961.
Arbeiter erhöhen die Sektorensperre an der Bernauer Straße in Berlin im August 1961. © dpa
Eine Arbeitskolonne der Kampfgruppen der Ostberliner Betriebe rammt am 19.08.1961 Eisenstäbe für eine neue Sperrmauer an der Potsdamer Straße Ecke Linkstraße am Potsdamer Platz ein. 
Eine Arbeitskolonne der Kampfgruppen der Ostberliner Betriebe rammt am 19.08.1961 Eisenstäbe für eine neue Sperrmauer an der Potsdamer Straße Ecke Linkstraße am Potsdamer Platz ein.  © dpa
Das Archivbild vom 18. August 1961 zeigt eine Ostberliner Maurerkolonne, die unter Aufsicht von bewaffneten DDR-Volkspolizisten an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze eine mannshohe Mauer errichtet.
Das Archivbild vom 18. August 1961 zeigt eine Ostberliner Maurerkolonne, die unter Aufsicht von bewaffneten DDR-Volkspolizisten an der sowjetisch-amerikanischen Sektorengenze eine mannshohe Mauer errichtet. © dpa
Erste Absperrungsmassnahmen am Brandenburger Tor durch Stacheldrahtverhau, 14./15. August 1961. Ein kleiner Junge will über die Sektorengrenze, ein DDR-Grenzsoldat hilft ihm dabei.
Erste Absperrungsmassnahmen am Brandenburger Tor durch Stacheldrahtverhau, 14./15. August 1961. Ein kleiner Junge will über die Sektorengrenze, ein DDR-Grenzsoldat hilft ihm dabei. © epd
Soldaten der DDR-Grenztruppen mit Maschinenpistolen bewachen am 14. August 1961 die ersten Absperrungsmaßnahmen.
Soldaten der DDR-Grenztruppen mit Maschinenpistolen bewachen am 14. August 1961 die ersten Absperrungsmaßnahmen. © epd
Volkspolizisten beim Errichten von Stacheldrahtsperren am Potsdamer Platz.
Volkspolizisten beim Errichten von Stacheldrahtsperren am Potsdamer Platz. © dpa
Ostberliner Räumkommandos tragen im Zuge von Zwangsevakuierungen am 14.10.1961 die Habseligkeiten von Bewohnern von Grenzhäusern in der Bernauer Straße an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin zum Verladen nach draußen.
Ostberliner Räumkommandos tragen im Zuge von Zwangsevakuierungen am 14.10.1961 die Habseligkeiten von Bewohnern von Grenzhäusern in der Bernauer Straße an der Grenze zwischen Ost- und Westberlin zum Verladen nach draußen. © picture alliance
Westberliner Männer winken, solange die Möglichkeit noch besteht, im Jahr 1962 ihren Verwandten und Bekannten in Ostberlin zu.
Westberliner Männer winken, solange die Möglichkeit noch besteht, im Jahr 1962 ihren Verwandten und Bekannten in Ostberlin zu. © dpa
Das Archivbild von 1962 zeigt einen Soldaten der Nationalen Volksarmee, rechts, der einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Berliner Mauer (Bernauer Straße) beaufsichtigt.
Das Archivbild von 1962 zeigt einen Soldaten der Nationalen Volksarmee, rechts, der einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Berliner Mauer (Bernauer Straße) beaufsichtigt. © picture alliance
Eine Familie aus dem Westen Berlins winkt am 15.10.1961 am ihren Verwandten in Ostberlin zu.
Eine Familie aus dem Westen Berlins winkt am 15.10.1961 am ihren Verwandten in Ostberlin zu. © picture alliance
Eine ältere Dame ist aus einem Fenster geklettert, um auf die zu West-Berlin gehörende Straße zu gelangen. Einige Männer versuchen, sie zurück in das Haus zu ziehen, während ein Mann auf einem unteren Fenstersims stehend der Frau Hilfestellung leistet. Nachdem sie zuvor ihren Hund und ihre Einkaufstasche in das von der Westberliner Feuerwehr gespannte Sprungtuch geworfen hatte, glückt ihr schließlich die Flucht in den Westteil der Stadt. 
Eine ältere Dame ist aus einem Fenster geklettert, um auf die zu West-Berlin gehörende Straße zu gelangen. Einige Männer versuchen, sie zurück in das Haus zu ziehen, während ein Mann auf einem unteren Fenstersims stehend der Frau Hilfestellung leistet. Nachdem sie zuvor ihren Hund und ihre Einkaufstasche in das von der Westberliner Feuerwehr gespannte Sprungtuch geworfen hatte, glückt ihr schließlich die Flucht in den Westteil der Stadt.  © dpa
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