Essen. Nach dem Mauerfall ging es turbulent zu: Beim Länderspiel in Wien saß ein falscher Doktor auf der DDR-Bank. Bayer Leverkusen hatte ihn geschickt.
Eigentlich hat er gar keine Zeit, aber wenn er nun schon einmal redet, dann redet er auch weiter. Weil er das ohnehin gern macht, und weil er das Thema selbst spannend findet, auch nach so vielen Jahren noch. Und während Reiner Calmund so erzählt und erzählt und unkompliziert vom Sie ins Du wechselt, fragt er plötzlich: „Junge, wat glaubste denn eigentlich, wie dat damals war?“ Ja, Calli, wie denn?
30 Jahre deutsche Einheit. Große Geschichte, viele Geschichten, auch im Sport. An der wohl spektakulärsten hatte Reiner Calmund entscheidenden Anteil. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, war auch der heute 71-Jährige überwältigt. Euphorisch feierte er in Berlin, bevor er zügig auf Arbeit umschaltete. Das Original von Bayer Leverkusen war der erste Fußball-Manager aus dem Westen, der erkannte und ausnutzte, dass sich mit der Mauer auch für Sportler aus der DDR ganz neue Welten geöffnet hatten.
Sechs Tage nach dem Mauerfall fanden zwei entscheidende Qualifikationsspiele für die Weltmeisterschaft 1990 in Italien statt. Die Mannschaft der Bundesrepublik hätte beinahe das Turnier verpasst, das sie im Jahr darauf gewinnen konnte, sie quälte sich zu einem 2:1 gegen Wales in Köln. Zeitgleich brauchte das Team der DDR nur noch ein Unentschieden in Österreich. Doch es ging in Wien mit 0:3 unter. Und das hatte Gründe.
Schneller sein – das war das Ziel des Leverkusener Managers
„Keiner der Spieler war noch mit den Gedanken beim Fußball“, sagt Reiner Calmund. „Die hofften plötzlich alle auf eine bessere Zukunft, auch die Familien. Die hatten ja alle Sportschau geguckt, die Spieler wollten alle in die Bundesliga.“
Zwischen Mauerfall und Spieltag dachte Calmund: schneller sein! Es war ihm klar, dass Massen von Agenten nach Wien reisen und mit der Empathie eines Piranha-Schwarms zuschnappen würden.
Auch er schickte die Scouts Norbert Ziegler und Dieter Herzog – „das waren unsere zwei Fußballfachmänner“. Entscheidend aber war, dass er noch ein Ass im Ärmel hatte. Wolfgang Karnath, damals Chemielaborant bei Bayer und Jugendbetreuer des Bundesligisten, sollte versuchen, nah an die DDR-Spieler heranzukommen. „Das war ein cleverer Junge. Den konntest du zur Tür rausschmeißen, dann kletterte der durchs Kellerfenster wieder rein.“ Weil Reiner Calmund gute Beziehungen zum österreichischen Fußball-Verband unterhielt, konnte er Karnath mit einer Fotografen-Akkreditierung ausstatten lassen – so etwas war damals noch möglich.
Calmunds wertvoller Helfer Karnath suchte die Nähe auf direktem Weg
Karnath aber reichte diese Rolle nicht. „Der wollte lieber der Arzt sein“, sagt Calmund und lacht. Sein Spion gab sich vor Ort als „Dr. Karnath“ aus, zeigte auf sein silbernes Köfferchen, zückte einen Bundeswehr-Sanitäter-Ausweis und verschaffte sich so nicht nur Zugang zum Innenraum, sondern auch Bewegungsfreiheit. „Die Österreicher“, erzählte Karnath später, „dachten, ich sei der Mannschaftsarzt der DDR. Und die DDR-Leute dachten, ich sei der Mannschaftsarzt der Österreicher.“
Frechheit siegt? An diesem Abend gewann sie haushoch. Karnath setzte sich in der zweiten Halbzeit einfach auf die Bank der DDR, und als Matthias Sammer ausgewechselt wurde, war Karnaths großer Moment gekommen. Er stellte sich als Abgesandter von Bayer Leverkusen vor und kam sofort zum Thema: „Wir wollen euch in die Bundesliga holen.“ Während sich die Scouts der anderen Vereine auf der Tribüne fleißig Notizen machten, hatte Karnath schon eine Verabredung. Zum Treffen im Teamquartier kamen gegen Mitternacht Matthias Sammer, Ulf Kirsten und Andreas Thom. Es war nun keine Kunst mehr, sie mit der Aussicht auf internationale Karrieren und ungewohnten Reichtum zu ködern – Bayer litt nicht an Zahlschmerzen: „Finanziell können wir alle anderen Vereine in den Sack stecken“, versicherte der Beauftragte.
Der Agent ergatterte ein Ticket für den Mannschaftsflieger
Während Karnath mit seinem Kapitalismus-Crashkurs der Coup seines Lebens gelang, durch den er in den Jahren darauf zu einem einflussreichen Spielerberater werden konnte, verbrachte Calmund den Abend beim anderen Länderspiel in Köln. Am nächsten Tag aber trafen sie sich in Berlin, Karnath hatte sogar ein Ticket für die Interflug-Maschine ergattert, die die DDR-Mannschaft zurückbrachte.
„Wichtig war, dass er die Adressen der Spieler hatte, dass er die Hausnummer, die Etagennummer, die Wohnungsnummer kannte“, sagt Calmund. Und so standen die beiden am Abend bei Andreas Thom vor der Tür – mit Blumenstrauß und Pralinen für dessen Freundin. Thom wollte, dass alles seinen offiziellen Gang ging. Als Kind des Arbeiter- und Mauernstaats befürchtete der Stürmer des von Stasi-Chef Erich Mielke unterstützten DDR-Rekordmeisters BFC Dynamo immer noch Probleme. Calmund regelte die Förmlichkeiten und machte den Transfer mit 2,5 Millionen D-Mark Ablöse wasserdicht: Thom wurde als erstem DDR-Nationalspieler erlaubt, in die Bundesliga zu wechseln.
Bundeskanzler Helmut Kohl mischte sich ein
Auch die beiden Dresdener Ulf Kirsten und Matthias Sammer unterschrieben, das aber führte zu Komplikationen. Bundeskanzler Helmut Kohl intervenierte höchstpersönlich bei der Konzernspitze der Bayer AG: Leverkusen könne doch nicht die DDR leerkaufen! So landete Matthias Sammer in Stuttgart, gegen einen Wechsel von Ulf Kirsten zu Borussia Dortmund konnte sich Calmund erfolgreich wehren. Darauf ist er im Rückblick besonders stolz: „Trotz Ballack, trotz Lucio, trotz Emerson – der Ulf Kirsten war unser bester Einkauf!“
Reiner Calmund ist es heute noch wichtig zu betonen, „dass wir die Jungs damals nicht über den Tisch gezogen haben“. Sie hätten „Spitzengehälter bekommen, 500.000 D-Mark“. Den oft gehörten Vorwurf der rücksichtlosen Selbstbedienung kontert er mit Alternativlosigkeit: „Unsere Weltmeister von 1990 haben alle im Ausland gespielt. Da konnten wir doch nicht zu diesen tollen Spielern aus der DDR sagen: Nun bleibt mal schön bei euch.“