Dortmund. Was macht die Spitzenküche anders? Maximiliane und Uwe Wilkesmann von der TU Dortmund haben die Restaurants erforscht. Ihr Buch macht Appetit.

Wenn die feinen Aromen im Mund ihr Spiel spielen, kann dieses Paar selten genussvoll die Augen schließen. Zu sehr werden die Blicke der beiden von den Händen in der offenen Küche angezogen, die mit vielen Griffen den perfekten Teller komponieren. Und warum öffnet der Kellner, nachdem er bei ihnen am Tisch war, die Schublade des Schränkchens und zeichnet mit einem Stift etwas ab? „Zählt er das Besteck nach?“, erinnert sich Maximiliane Wilkesmann lachend an eine erste, aber nicht ernst gemeinte Vermutung: Kontrolliert der Service gar, ob die Gäste das Silber verschwinden lassen?

Der sechste Gang: Rehrücken. Da wird nichts dem Zufall überlassen.
Der sechste Gang: Rehrücken. Da wird nichts dem Zufall überlassen. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Maximiliane Wilkesmann und ihr Mann Uwe sind kein gewöhnliches Paar, das sehr gerne sehr gut isst. Sie sind Professoren für Organisationssoziologie und haben nun die Spitzengastronomie erforscht. In dieser Studienzeit haben sie quasi 64 Sterne verspeist.

Wie schaffen es die Spitzenköche, immer wieder Neues zu entwickeln?

So viele Sterne insgesamt können die Restaurants vorweisen, die sie besucht und deren Personal sie beobachtet haben. Die gehobene Gastronomie hat ihre Neugier geweckt. Deren Abläufe sind anders als die im Lokal um die Ecke. Sie haben Interviews mit Sterneköchen geführt, mit Servicekräften oder Restaurantkritikern. Forschungsgelder haben sie nicht beantragt, sondern Speisen und Reisen selbst bezahlt, so Uwe Wilkesmann. Die Freude am gemeinsamen Forschen hat sie angetrieben, die Lust am Entdecken der Abläufe in der Küche wie am Tisch. Nun haben die Wissenschaftler von der Technischen Uni Dortmund ein Buch dazu veröffentlicht: „Nicht nur eine Frage des guten Geschmacks! Die Organisation der Spitzengastronomie“.

„Wie schaffen die Köche es, Neues zu entwickeln und trotzdem sehr routiniert in der Arbeit zu sein?“, nennt Maximiliane Wilkesmann eine der Fragen, der sie nachgegangen sind. Das Ziel der Spitzenköche ist der perfekte Teller, der bei jedem Gast gleich aussehen muss. Das erfordert einerseits eine hohe Routine und Perfektion in der Küche. Andererseits braucht es aber auch einen kreativen Kopf, der sich immer wieder neue Kreationen überlegt. „Alle Köche haben gesagt: ,Wir kochen im Kopf.’“, erzählt Uwe Wilkesmann. Dort verfügen sie quasi über eine Geschmacksbibliothek, aus der sie diese und jene Zutat herausziehen und schon in Gedanken wissen, was passt und was nicht.

Sie haben sich auch erst einmal in die Spitzenküche „eingeschmeckt“ – wie bei einem guten Wein: Maximiliane und Uwe Wilkesmann.
Sie haben sich auch erst einmal in die Spitzenküche „eingeschmeckt“ – wie bei einem guten Wein: Maximiliane und Uwe Wilkesmann. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Aber was motiviert Köche, bis zu drei Sterne zu erkochen, obwohl es sich wirtschaftlich nicht lohnt? Auch dafür hat sich das Professoren-Paar interessiert: „Eine Sterne-Auszeichnung ist wie ein Oscar“, so die 45-Jährige. „Man will dazugehören, Ritter der Tafelrunde sein“, ergänzt der 57-Jährige. Ein Stern des Restaurantführers Guide Michelin sei wie ein Ritterschlag.

Am Sternenhimmel glänzen überwiegend Männer

Auffällig ist, dass am Sternenhimmel überwiegend Männer glänzen. In Deutschland gibt es lediglich eine Zwei-Sterne-Köchin, und zwar Douce Steiner vom „Hirschen“ in Sulzburg in Baden-Württemberg. Der Ton in der Küche sei heute zwar nicht mehr ganz so rau, aber „die Arbeitszeiten sind nicht familienfreundlich“, sagt Maximiliane Wilkesmann. Außerdem haben die Forscher festgestellt, dass die Sterneköche stark vernetzt sind. In der Regel hat ein Koch eine Lehrzeit bei einem Sternekoch erlebt, bevor ihm selbst die Ehre zuteil wurde.

Nicht nur die Küche hat die Wilkesmanns interessiert, auch der Service und seine eingespielten Abläufe. So fanden sie heraus, dass der Kellner mit der Schubladen-Notiz nicht das Silberbesteck abzählt, sondern zum Beispiel vermerkt, welcher Gast, welchen Gang bekommt. Denn in der Spitzengastronomie wird wie von Zauberhand serviert, da gibt es das Tabu zu fragen: „Wer hatte das Rind?“

Franzosen verzichten lieber auf ein schickes Auto als auf ein gutes Essen

Während in Frankreich die Leute lieber in einem „Schrottauto“ fahren als auf gute Speisen zu verzichten, so Maximiliane Wilkesmann, sei diese Esskultur hierzulande noch ein zartes Pflänzchen. Aber eines, das gedeihe. Zumindest in anderen Regionen Deutschlands. „So eine Stadt wie Dortmund oder überhaupt das Ruhrgebiet könnte vom Publikum her mehr Sternerestaurants vertragen“, meint Uwe Wilkesmann.

Das Buch zur Restaurant-Forschung: „Nicht nur eine Frage des guten Geschmacks! Die Organisation der Spitzengastronomie“.
Das Buch zur Restaurant-Forschung: „Nicht nur eine Frage des guten Geschmacks! Die Organisation der Spitzengastronomie“. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

Das Paar wollte das Buch zur Sterne-Verleihung im Frühjahr veröffentlichen. Dann kam der Lockdown – und sie ergänzten ihre Forschung um eine Befragung: Wie wirkt sich die Corona-Krise auf die Spitzengastronomie aus? Die Restaurantleiter trauten sich zwar ein längeres Durchhalten zu als die übrige Gastronomie, aber auch sie sahen mit Bauchschmerzen in die Zukunft.

Tatsächlich mussten bereits vor dem erneuten Anstieg der Corona-Zahlen die ersten Sterne-Restaurants schließen. Aber direkt nach dem Lockdown war der Hunger der Menschen nach gutem Essen hoch, so die Forscher. Sie sind zu einigen Köchen gereist, um ihnen das Buch zu bringen. Und dann wollten sie deren Menüs noch mal genießen, so Maxie Wilkesmann. „Man hat kaum einen Tisch gekriegt.“

Das Verhalten der Gäste in einem edlen Restaurant haben sie nicht erforscht. Aber sie haben schon den Eindruck, dass es nicht mehr so elitär zugeht wie noch in den 90er-Jahren. Das Speisen in solch einem Restaurant sei nicht mehr ein Weg, mit der sich die obere Gesellschaftsschicht sozial von denen da unten abgrenzen würde. „Es ist offener geworden“, sagt Uwe Wilkesmann.

Natürlich könne sich nicht jeder diese Küche leisten. Aber die beiden, die mit einem Smart zum Ein-Sterne-Restaurant Palmgarden in Dortmund gefahren sind, gehen auch lieber seltener essen und dafür sehr gut. Neugierig müsse man schon sein und sich mehr wünschen als ein Schnitzel. Sie selbst hätten sich auch erstmal einschmecken müssen, „wie bei einem guten Wein“, so Uwe Wilkesmann. Aber mittlerweile kosten sie auch Austern. „Ich war kein großer Fischfan“, verrät Maxie Wilkesmann, „ich genieße das jetzt, einen tollen Fischgang zu bekommen.“

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Von Maren Schürmann und Lars von der Gönna

Mittlerweile können die beiden die Augen genussvoll schließen, wenn die feinen Aromen im Mund ihr Spiel spielen. Denn ihr Durst nach Spitzengastronomie-Abläufen ist angenehm gestillt. Trotzdem werden die beiden wieder zusammen forschen. Schließlich haben sie noch andere Hobbys. Fußball zum Beispiel. „Wir haben Dauerkarten“, verrät Maxie Wilkesmann. Als Dortmunder natürlich für den BVB. „Die Currywurst schmeckt im Bochumer Stadion besser.“

Es ist angerichtet: Das Buch zur Forschung

Soziologen sind ja nicht gerade bekannt für eine poetische Sprache. Doch das anspruchsvolle Buch von Maximiliane und Uwe Wilkesmann ist in bekömmlichen Häppchen geschrieben, die Appetit machen: „Nicht nur eine Frage des guten Geschmacks! Die Organisation der Spitzengastronomie“ (Springer, 236 S., 19,99 €).