Essen. Politische Debatten in den sozialen Netzwerken entgleisen zusehends: Die Bühne gehört fast nur denen, die am lautesten brüllen. Warum das so ist.
Wer in jüngerer Zeit öffentliche politische Debatten, aber viel mehr noch die Beiträge in sozialen Netzwerken verfolgt, dem drängt sich der Eindruck auf, dass immer mehr Menschen in den Irrsinn abdriften. Es wimmelt nicht nur bei Reiz-Themen wie der Zuwanderung, Rassismus und Corona von absurden Verschwörungstheorien, Aufrufen zu Gewalttaten, Verbots-Visionen, Boykott-Pamphleten, Drohungen.
In diesem überhitzten Klima sind ergebnisoffene Debatten oder Differenzierungen immer weniger möglich. Eine Entwicklung, die für eine plural organisierte Gesellschaft reines Gift ist. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte vor einem Jahr auf der Digitalkonferenz re:publica angemerkt: „Was macht eine gute, demokratische Debatte überhaupt aus?“ Seine Antwort: „Vernunft auf der einen Seite – die Bereitschaft, mit Argumenten zu überzeugen und sich von besseren Argumenten überzeugen zu lassen – und auf der anderen Seite: Zivilität. Das heißt: Wertschätzung und Vertrauen, Empathie und Respekt für ein Gegenüber, das immer auch einen legitimen Teil zur Debatte beizutragen hat.“
Die Legitimität von Debattenbeiträgen wird verneint
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Diese Legitimität wird allerdings zunehmend verneint: Es gibt offenbar für wachsende Gesellschaftskreise nur noch Freund und Feind, Schwarz und Weiß, gut und böse. Links-grüne Kreise würden basierend auf moralischer Selbstgewissheit über viele Themen am liebsten nicht mehr diskutieren, sondern sie zunehmend diktieren, und der Verschwörungs-Theorie-versessene rechte Rand ergeht sich in Umsturz- und Putsch-Phantasien.
Warum ist das so? Warum stehen sich augenscheinlich immer mehr Menschen unversöhnlich gegenüber? Oder anders gefragt: Ist das tatsächlich so? Nach Ansicht von Politik- und Gesellschaftswissenschaftlern muss man für den Befund mehrere Faktoren im Blick behalten.
Der Erfolg der Minderheiten – die Fragmentierung der Gesellschaft
Paradoxerweise beginnt es mit einem echten Erfolg der pluralen Gesellschaft: Die Mehrheitsgesellschaften der westlichen Demokratien sind in den vergangenen Jahrzehnten deutlich liberaler geworden. Minderheiten haben mehr Raum im öffentlichen Diskurs erhalten und gelernt, ihre Bedürfnisse und Forderungen selbstbewusster zu formulieren. Und um wirklich gehört zu werden, wurden Forderungen laut vorgetragen. Das ist im Prinzip legitim und brachte Erfolg (zum Beispiel im Kampf für soziale Gerechtigkeit, für Gleichberechtigung, für die Rechte von Schwule und Lesben), bringt jedoch mittlerweile auch Probleme mit sich. Denn der gemeinsame politische Konsens schwindet.
Die plurale Gesellschaft ist inzwischen extrem fragmentiert – weil immer mehr Menschen sich darauf berufen, einer Minderheit anzugehören. Mit diesem Status geht die Tendenz zur Viktimisierung einher (wir sind Opfer, wir werden nicht gehört) und damit wiederum eine Radikalisierung (wir haben recht, wir müssen uns wehren). Dieses anschwellende Mimimi und Wutpotenzial aber wirkt wie Säure am gesellschaftlichen Konsens – der gemeinsame Wertesockel schmilzt dahin, wenn immer mehr Gruppen vornehmlich und rücksichtslos Eigeninteressen gegen „die anderen“ durchsetzen.
Soziale Medien: Verstärker, Resonanzkörper und Katalysator
Der zweite, mindestens ebenso wichtige Faktor der zunehmenden Polarisierung ist die Digitale Revolution: Der Erfolg sozialer Medien wirkt als ganz wesentlicher Verstärker, Resonanzkörper und Katalysator für die Fragmentierung. „Facebook wurde ursprünglich nicht als Unternehmen gegründet. Es wurde gemacht um eine soziale Mission zu erfüllen - die Welt offener und verbundener zu machen.“
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Die lyrischen Einlassungen von Firmengründer Mark Zuckerberg verbrämen, um was es den Betreibern sozialer Medien natürlich im Wesentlichen geht: ums Geld. Kurz gesagt: Je länger sich der Nutzer auf Facebook tummelt, umso mehr Geld spült es in die Kassen Zuckerbergs. Obwohl der Konzern mit mehreren Datenschutzskandalen ringt, stieg der Umsatz von Facebook 2019 um 14,9 Milliarden US-Dollar auf einen Höchstwert von 70,7 Milliarden Dollar und erzielte einen satten Gewinn von 18,49 Milliarden. Der Löwenanteil der Umsätze wurde durch Werbung erwirtschaftet.
Wer laut ist, emotional, zornig – der hat Erfolg
Das Prinzip läuft also: Soziale Medien sammeln möglichst viele Nutzerdaten, um dem Nutzer das zeigen zu können, was er sehen will, um ihn wiederum so ans Portal zu fesseln. Das Phänomen der dadurch entstehenden Filterblase trägt aber dazu bei, dass auch krudeste Minderheits-Meinungen oder Fake-News ein Publikum, Bestätigung und Verstärkung finden. Und da das wichtigste Gut dieses Geschäftsmodells Aufmerksamkeit ist, ist im Zweifel das laute, polemische, emotionale Posting für Facebook wertvoller als der Rest – wie Studien des Analyseblogs Fanpagekarma belegen.
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Und so kommt es, dass die Algorithmen, die Facebook steuern, oft genau jene Protagonisten mit Aufmerksamkeit belohnen, die herumbrüllen statt zu diskutieren. So kommt es, dass Verschwörungstheorien, Lügen und wüste Anschuldigungen in den sozialen Netzwerken nicht nur gleichberechtigt neben den ebenso auffindbaren Fakten und wichtigen Informationen stehen – sondern häufig auch sehr viel mehr wahrgenommen werden als diese. Eine Studie der Universität von Oxford kam zu dem Ergebnis, dass vor Wahlen Fake News bis zu sechsmal häufiger gelesen wurden als seriöse Nachrichten.
Die Mehrheit schweigt - die Radikalen toben sich aus
Hinzu kommt, dass die Mehrheits-Meinung im Netz häufig nicht artikuliert wird: Nur 10 Prozent der Befragten einer Studie aus dem Jahr 2016 gaben an, jemals einen Kommentar auf Nachrichtenseiten verfasst zu haben. Der Rest schweigt. Wozu das führt, haben Forscher des Institutes for Strategic Dialogue in ihrer Studie „Hass auf Knopfdruck“ zusammengetragen: Ihre Auswertung von 700 Posts, 16.830 Kommentaren und 1,2 Millionen Likes habe ergeben, dass ein einstelliger Anteil aller untersuchten Accounts für 50 Prozent der Likes bei Hass in den Kommentarspalten verantwortlich sind. Will heißen: Auch an dieser Stelle prägt eine Minderheit den Debattenton. Der Befund der Studie zielte auf rechte Tendenzen, dürfte aber übertragbar sein.
Zu dem Ergebnis passt im Übrigen eine Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung über die politische Ausrichtung der Deutschen beim Reizthema Zuwanderung: Demnach zählt die Hälfte der Bevölkerung zu den pragmatischen Zuwanderungsbefürwortern, die sich allerdings andere politische Grundlagen dafür wünschen. Jeweils nur jeweils zwischen zehn und 15 Prozent gehörten zum rechten und linken radikalen Rand, die entweder überhaupt keine Zuwanderung wollen oder aber vollkommen offene Grenzen. Dominiert wird die Diskussion in den sozialen Medien aber von den Extremen, die sich immer wüster beharken – und nicht von der pragmatischen Mitte.
Die Annahme einer „Alternativlosigkeit“ ist Mumpitz
Die Frage ist: Ist es möglich, diese politische Mitte wieder stärker in den öffentlichen Raum der sozialen Medien zu holen und damit dort wieder eine sinnhafte Debattenkultur zu installieren? Denn darum geht es in der Demokratie, aber auch in der Wissenschaft: Erst das Infrage-Stellen bisheriger Kenntnis- und Sachstände in der Diskussion, und die anschließende Korrektur des Bestehenden führt zu Fortschritten. Und der politische Pluralismus wiederum lebt vom Kompromiss: Damit wir es alle aushalten in diesem Land, müssen wir über den Austausch von Meinungen zu gemeinsamen Festlegungen kommen. Und man kann zu fast allen Themen mindestens zwei Meinungen haben. Keine muss richtig sein, und man muss auch diejenige des Gegenüber nicht mögen, aber dass es so ist, gilt es anzuerkennen.
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Die Aussage, dass Dinge nicht diskutabel oder „alternativlos“ sind oder man dazu „keine zwei Meinungen“ haben kann, ist Mumpitz. Der laute Ruf nach eindeutiger Haltung, nach Härte führt letztlich zur Debatten-Despotie. Und am Ende ist es kein Wunder, dass aus dieser kommunikativen Dauer-Überhitzung und Verrohung reale Gewalt entsteht, wie die rassistisch motivierten Morde in Hanau und am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke oder der Angriff auf die Synagoge in Halle.
Man kann letztlich nur einordnen
Kurz: Solange Facebook und die anderen sozialen Medien so zynisch funktionieren wie sie jetzt funktionieren, wird sich am Status Quo nichts ändern, bleibt die Mehrheit ungehört. Viel ändern lässt sich daran wahrscheinlich nicht – aber mit dem Wissen kann man immerhin die politische Relevanz der Facebook-Debatten einordnen.
Ist Facebook, ist Twitter also Schuld an politischer Polarisierung? Mitschuldig zumindest. *Aber um dem Algorithmus ordentlich Futter zu geben, müsste man sagen: Ja, Facebook fördert die Gewalt und vernichtet die Demokratie.