Essen/Gelsenkirchen. Das Corona-Virus brachte neue, starke Bilder. Solche lassen sich immer mehr Menschen unter die Haut stechen – ein Bericht zur Tattoocon in Hagen.

Wer bei tropischen Temperaturen in einem der vielen Tattoo-Studios in NRW hinter der Maske schwitzt, könnte an die Gletschermumie aus Südtirol denken. Ötzi aus dem Eis schafft nicht nur Kühlung. Er ist bislang der älteste tätowierte Europäer.

Cemil Ince, Inhaber des „Hashtag Tattoo Studios“ in der Essener City, schwört auf eigene Entwürfe. Der 34-Jährige sticht seiner vorwiegend weiblichen Kundschaft nur Unikate. Im zweimonatigen Lockdown hat er sich Neues ausgedacht. Auch ein Stapel Klopapierrollen ist darunter, in Fine-Line-Technik für Oberarm oder Wade. Entworfen mehr zum Spaß. „Aber vielleicht fragt demnächst einer nach so einem Motiv“, sagt er. Das könne noch eine Weile dauern. Denn im Moment stechen die meisten Body-Artists an Rhein und Ruhr noch Motive, die vor der Pandemie ausgesucht wurden.

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Franzi Hölscher sticht in Gelsenkirchen ein Tattoo. Motiv ist eine doppelte Toilettenpapierrolle.
Franzi Hölscher sticht in Gelsenkirchen ein Tattoo. Motiv ist eine doppelte Toilettenpapierrolle. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Arschgeweih war gestern. Rosen gehen immer noch. Daniel Klöting, Sprecher der Szene-Messe „Tattoocon“ (15. und 16. August in der Stadthalle Hagen) kennt die Trends: „Ein Modediktat wird nicht mehr so verfolgt. Alles ist individuell.“ So wie die teils sehr persönlichen Geschichten hinter den Körperkunst-Werken. Tattoos erzählen über außergewöhnliche Lebensereignisse, betonen den Charakter ihrer Träger oder machen auf Probleme aufmerksam. Die zerbrochene Taschenuhr auf dem Arm, die stilisierten Efeu- oder Rosenranken im Nacken, das Großeltern-Portrait auf dem Rücken oder das Unterschenkel-C für Carola – alles Symbole für etwas tief unter der Haut. Die Beliebtheit steigt: Knapp jeder Zehnte Deutsche trägt schon dauerhaften Körperschmuck, schätzen Experten. Bei den 16 bis 29-Jährigen soll fast jeder Vierte tätowiert sein.

Wie in der Malerei gibt es viele Stile

Corona ist ein Abschnitt im Leben, den man nie vergessen wird“, ist sich Olaf Kraus sicher. Einer, der seit 30 Jahren mit Nadel und Farben Body-Lifestyle kreiert. Kraus betreibt seit Mitte der 1990er seine drei „Hot Flesh“-Studios in Unna, Soest und Iserlohn. Mit elf Jahren ritzte er sich sein erstes Tattoo in einer Schulstunde. Als Jugendlicher verzierte er seine Freunde mit selbstgebauten Tätowiermaschinen. „Tattoos sind Kunstwerke. Wie in der Malerei gibt es viele Stile.“ Der Kunde sei König und werde bei Motiv und Ausführung beraten. Doch eines stellt auch dieser Chef gleich klar: „Rechte Sachen oder Rassistisches machen wir gar nicht.“ Verrücktes umso lieber: Einem eingefleischten BVB-Fan stach er für 130 Euro Stundenlohn ein Porträt von Trainer Jürgen Klopp. Als Vorlage diente dem Body-Artist ein Zeitungsfoto, das er abzeichnete.

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Einmal alles!
Einmal alles! © ofe | ofe

Lebenslänglich. Das klingt für Kai Krieger aus Essen nicht abschreckend. Denn „Lebenslänglich“ heißt der Tattoo-Laden in Essen, in dem der 38-jährige Shop-Manager ist. Besonders gefragt sind dort gerade realistische „Black & Grey“-Arbeiten und „Water-Colour“-Motive. Den Wald mit Vögeln wünscht sich ein 36-jähriger Essener seit Jahren auf seinem Unterarm. Nun erfüllt er sich den Traum. Zweimal fünf bis sechs Stunden muss er dafür auf dem mit Schutzfolie bedeckten Tattoo-Stuhl ausharren. „Am Anfang ist das schlimmer als das Stechen. Doch am Ende überwiegt der Schmerz“, berichtet er. Mit vier anderen sitzt dieser Kunde wie beim Friseur in einem Raum. Bis zu Corona durften hier zehn Leute gleichzeitig gestochen werden, jetzt nur die Hälfte.

Im Essener Studio treffen wir auch Thomas Kux. Mit 14 schenkte ihm sein großer Bruder das erste Tattoo. In Hamburg, auf der Reeperbahn … „Unsere Eltern wussten nichts davon und waren nicht begeistert.“ Kein Anker, eine Rose weckte damals Kux’ Leidenschaft für Körperkunst. Die ausgeblichene Oberarm-Blume lässt er sich übermalen. Sozusagen lebenslänglich mit Freispruch: Beim „Cover up“ werden unerwünschte Tattoos durch neue verdeckt. „Heute haben Tattoos nichts Anrüchiges mehr“, findet der 52-jährige Finanzberater. Für seine „Herzdame“ leistet er sich nun drei Rosen. Eine davon ist rot. Das Ganze stehe für 30 glückliche Ehejahre.

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Vor dem Stechen kommt immer erst das Zeichnen, klassisch auf Papier oder mit dem Tablet. Die Schablonen heißen „Stencils“ und werden meist nach Kundenwünschen erstellt und unter hohen Hygieneauflagen unter die Haut gebracht. So auch in Gelsenkirchen-Horst, wo Desinfektionsmittel nicht erst seit Corona zum Alltag gehört. Und Zellstoff im Allgemeinen, was am Anfang der Pandemie knapp war und wie Gold gehandelt wurde. In Erinnerung an den Run aufs Toilettenpapier hat Body-Artistin Franzi Hölscher ein ironisches Comic-Motiv kreiert. „Zeichen gegen den Wahnsinn“ nennt die 32-Jährige diesen Entwurf. Sie gehört seit einem Jahr zum Team von „Ernst Co Tattoo“ in Gelsenkirchen und möchte beim Vornamen genannt werden, wie viele Tätowierer, die wir treffen. Also gut: Franzi war schon immer kreativ. Nach dem Studium (Design und Medienkommunikation) wollte sie in keine Werbeagentur und fand ihren Traumjob als Tätowiererin. Den lernt sie drei Jahre, finanziert vom Studio. Das ist nicht selbstverständlich. Tätowieren ist kein regulärer Ausbildungsberuf.

Leicht verrückte Vorlagen

Franzis Vorlagen sind bisweilen leicht verrückt. Mit 10.5 bis 11 Volt arbeitet sich die feine Nadel vor und bringt die Tinte bis zu drei Millimeter unter die Haut. Amon Heinrich (25) gefallen die beiden Toilettenpapierrollen, die bereits nach 30 Minuten sein Schienbein schmücken: „Einfach nur super!“, sagt er über sein neuestes Tattoo. Ganz schwarz und in feinen Linien zeige das Bild „ironisch-triviale Ästhetik.“ Die Karikatur wird ihn für immer an die Krise erinnern.

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„Corona hat den Tätowierern in NRW sehr zugesetzt“, weiß Messe-Sprecher Daniel Klöting. Als Kollegen in anderen Bundesländern wieder öffneten, durften die hiesigen Studios noch nicht arbeiten. Umso mehr freut sich die Szene aufs Wochenende mit der Hagener „Tattoocon“. Und das kleine, rote oder grüne Virus wird ein Thema bleiben, das mit Sicherheit noch mehr Leuten unter die Haut geht.

Teuflisches Virus als Körperschmuck: Geschmacksache.
Teuflisches Virus als Körperschmuck: Geschmacksache. © fb | fb Getty

Erste Messe „danach“

Tattoo-Trends zeigt die Publikumsmesse „Tattoocon“ heute in Hagen, deutschlandweit die erste internationale Tattoo-Convention nach den Lockerungen. Preise: Day-Ticket 15 €. Öffnungszeiten: So. 16. August: 11 – 21 Uhr. Info: www.tattoocon.info

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