Dortmund. Für Gehörlose ist die Corona-Krise eine große Herausforderung – der Mundschutz macht es unmöglich, Lippen zu lesen. Wir trafen einige Betroffene.
Genaue Zahlen gibt es nicht. Aber Tausende Menschen in NRW sind gehörlos. Für viele von ihnen ist die Corona-Pandemie besonders schwierig. Oft erreichen neue Regeln und Informationen sie nur mit großer Verzögerung. Und in Zeiten, in denen jeder eine Maske tragen muss, ist es manchmal kaum möglich, an den Lippen zu erkennen, was der Gegenüber sagt. Aber die meisten Betroffenen haben sich mittlerweile mit der ungewohnten Situation arrangiert.
Da sitzen sie im Außenbereich eines Dortmunder Straßen-Cafés und sind schweigend ins Gespräch vertieft. Nur die Hände kommen kaum zur Ruhe, denn Annekatrin Sterling-Meyer, Katja Gertzen und Nina Wiencek haben sich viel zu erzählen. Wie das eben so ist, wenn drei Freundinnen sich länger nicht gesehen haben. Und wie das auch so ist, wenn zwei von ihnen taub sind und die dritte ihre Gebärdendolmetscherin ist.
Corona hat vieles schwieriger gemacht
„Corona“, wird Wiencek – die Dolmetscherin – später sagen, „hat vieles schwieriger gebracht.“ Und während sie das sagt, formen ihre Hände blitzschnell Buchstaben und das Gesicht zuckt und zieht Grimassen, die Hörende clownesk finden, über die ein Tauber aber niemals lachen würde. Denn die Mimik und das Mundbild während des Gebärdens sind wichtig, damit Sterling-Meyer und Gertzen besser begreifen, was Wiencek sagt. Für Taube, die die Gebärdensprache nicht verstehen, sind sie sogar die einzige Möglichkeit, ihre Gegenüber zu verstehen. Seit Einführung der Maskenpflicht sind sie von der Kommunikation weitgehend abgeschnitten. „Es gibt viele, die verzweifelt sind“, weiß Wiencek.
Die beiden Dortmunderinnen, die eine schon taub geboren, die andere als Baby ertaubt, gehören nicht dazu. Sie haben sich nämlich noch nie auf das Mundbild allein verlassen, obwohl es in ihrer Kindheit und Jugend noch keine offizielle Gebärdensprache gab. Das Absehen von Worten von den Lippen funktioniert wirklich gut nur unter optimalen Bedingungen.
Lichtverhältnisse und Sprechtempo
Die Lichtverhältnisse müssen stimmen, das Sprechtempo muss angemessen und weit weg von dem Stakkato eines Dieter-Thomas Heck sein. Und – „hömma“ – Dialekte wie „Hasse, bisse, kannse“, also dem Ruhrpott seine Sprache, funktionieren auch nicht besonders gut. Und selbst wenn alles stimmt, können nur rund 30 Prozent der gesprochenen Sprache abgesehen werden, sagen Gehörlose. Zu ähnlich seien sich manche Ausdrücke und deshalb nicht durch die Bewegung des Mundes zu unterscheiden. Mutter und Butter etwa oder Rosen und Hosen. „Ein Alptraum“, lässt Meyer-Sterling übersetzen. Auch deshalb hat sie, genau wie Gertzen, die Gebärdensprache erlernt.
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Trotzdem waren sie anfangs ein wenig besorgt, als sich jeder einen Mund-Nasenschutz überstülpen musste. „Außerhalb der Szene gibt es ja kaum Menschen, die die Gebärdensprache beherrschen“, erklärt Wiencek. Aber so schlimm wie befürchtet, ist es dann doch nicht geworden, wenn die Dortmunderinnen auf dem Markt oder beim Bäcker auf ihre Ohren zeigen, mit dem Kopf schütteln und die Schultern zucken. „Die Leute“, hat Sterling-Meyer festgestellt, „geben sich seitdem mehr Mühe, wenn sie merken, dass wir nichts hören.“ Auf Dinge zeigen sie, lassen sich Gesten einfallen. „Sie reden mit Händen und Füßen, fast wie Südländer“, erzählt die 39-Jährige. „Das macht es einfacher.“
Masken mit Sichtfenster helfen nicht
Es macht es aber nicht einfach. Denn natürlich fehlt das Mundbild, wenn Gehörlose einem hörenden Gebärden-Analphabeten gegenüberstehen. Da helfen auch die Masken mit Sichtfenster nicht. Erst recht nicht, wenn sie gehörlosen Menschen angeboten werden. „Das ist nett gemeint, aber wir brauchen die nicht“, sagt Sterling-Meyer. „Die Leute, die mit uns reden, brauchen sie.“ Aber so viele dieser Masken sind gar nicht erhältlich. Und fast alle, die erhältlich sind, spiegeln viel oder beschlagen meistens sehr schnell. „Dann bringt das Sichtfenster gar nichts.“
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Bei manchen Gesprächen kann ohnehin nur eine Gebärdensprachendolmetscherin helfen. Bittet die Lehrerin der Kinder zum Elterngespräch, oder will der Arzt über die Ergebnisse des letzten Blutbildes sprechen, ist Wiencek mit dabei – Schweigepflicht inklusive. Leider gibt es nach Einschätzung vom Gertzen und Sterling-Meyer viele zu wenige dieser Dolmetscher. Vor allem zu wenige, mit denen sie sich so unterhalten können wie mit Wiencek. Denn sie ist ein CODA (Children of Deaf Adults), ein Kind tauber Eltern und beherrscht deshalb alle Kommunikationsmöglichkeiten schon lange vor der Dolmetscher-Prüfung. Und sie kennt die Sorgen und Nöte der Menschen, die nicht hören können.
Manchmal aber ist kein Gebärdendolmetscher da, wenn man einen brauchen würde. Schwierig wird es, wenn es überraschend kommt, wenn es schnell gehen muss. „Bei einem Notfall“, ahnt Gertz, „könnten wir Polizisten oder Sanitäter mit Maske derzeit gar nicht verstehen.“ Mit Visieren, sagt die 47-Jährige, sei die Sache wesentlicher einfacher. „Doch die werden bisher nur selten getragen.“
Zur Not mit Stift und Zettel
Der Alltag in Corona-Zeiten aber, da sind sich beide Frauen einig, lässt sich trotz Maske meistern. Zur Not greifen die beiden zu Stift und Zettel, die sie immer dabei haben, und schreiben auf, was sie wollen – oder lassen es den Gesprächspartner aufschreiben. Aber auch das ist nicht selbstverständlich für gehörlose Menschen. Denn eine Schriftsprache zu lernen, deren Wörter man nie im Leben gehört hat, ist extrem schwierig.
Am Ende sind es dann auch andere Dinge, über die sich viele Gehörlose in der Corona-Zeit aufregen. „In vielen anderen Ländern gibt es keine Nachrichtensendung mehr, in der nicht ein Gebärdendolmetscher übersetzt“, ärgert sich Sterling-Meyer. In Deutschland sei das mit Beginn der Pandemie zwar ein wenig besser geworden, aber „trotzdem hinken wir noch stark hinterher“. Nicht mal parallel mitlaufende Untertitel seien eine Selbstverständlichkeit. „Dabei ist es doch gerade in Krisen extrem wichtig, Warnungen und Neuigkeiten möglichst zeitnah zu bekommen. Aber wir müssen immer noch ins Internet. Und das obwohl wir mittlerweile anteilig sogar Rundfunkbeitrag zahlen.“
Zum Abschluss haben Gertzen und Sterling-Meyer noch einen Rat an alle Hörenden mit Maske. „Wenn wir Sie nicht verstehen, müssen sie nicht lauter sprechen. Wir verstehen sie auch nicht, wenn Sie schreien. Wir sind taub.“
Die Hände sprechen mit
Die Gebärdensprache an sich ist alt und hat sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt. Die erste Gehörlosenschule weltweit wurde von dem Mönch Abbé de l’Epée 1770 in Paris gegründet, acht Jahre später gab es auch eine in Leipzig. Seit 2002 sind die Gebärden in Deutschland als eigene Sprache anerkannt.
Wie bei der gesprochenen Sprache gibt es auch bei Gebärden weltweit Unterschiede. Allen Gebärdensprachen gemeinsam ist, dass sie visuelle Sprachen sind. Man hört sie nicht, man sieht sie nur, sieht wie mit den Händen Worte gebildet werden. Wichtig sind allerdings auch der Gesichtsausdruck, die Bewegung des Mundes und „Geräusche“, die man während des Gebärdens macht. Gebärdensprachen sind aber keine Pantomime, sondern verfügen über eine eigene, vollständige Grammatik und konventionelle Zeichen.
Für die Gebärden nutzt man immer seine dominante Hand. Für manche Gebärden benötigt man allerdings auch beide Hände. Und wichtig ist auch, wo am Körper – Hals, Arme, Körper oder Gesicht – die Gebärde ausgeführt wird.
Nicht zu verwechseln ist die Gebärdensprache mit dem so genannten „Fingeralphabet“. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass bei der Gebärdensprache eine einzelne Bewegung einem Wort entspricht, während beim Fingeralphabet ein Wort buchstabiert wird. Deshalb wird das deutsche „Gebärdensprachen-Alphabet“ unter anderem genutzt, wenn eine bestimmte Gebärde nicht bekannt ist. Auch Namen sind zum Beispiel ein typischer Fall für das Fingeralphabet.
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