Essen. Sie gilt als Wunderwaffe gegen große Probleme, doch das kann Bildung gar nicht leisten, sagt Forscher El-Mafaalani. Chancen bietet sie dennoch.
Man könnte mit der Bildung Mitleid haben. Es gibt wohl kaum ein gesellschaftliches Problem, bei dem sie nicht an vorderster Front kämpfen soll. Wenn die Zahl rechter Straftaten in Deutschland zunimmt, sollen Prävention und Bildung rechtsnationales Gedankengut eindämmen. Wenn soziale Ungleichheit ganze Stadtteile lähmt, soll Bildung für mehr Chancen sorgen. Und wenn die Klimaaktivisten Greta Thunberg die Staatschefs unserer Welt auf der Bühne der Vereinten Nationen an die gravierenden Folgen klimaschädlichen Handels erinnert, dann mahnt sie: „Bildet euch!“
Doch taugt die Bildung überhaupt zu dem Allheilmittel, das wir aus ihr machen? Der Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani ist da mehr als skeptisch. Ihm falle kein in Deutschland relevantes Problem ein, schreibt der 41-Jährige in seinem aktuellen Buch*, für das Bildung eine Lösung sein könnte. Nicht die Klimakrise, nicht Kriminalität, nicht der Rechtsruck. „Bildung“, sagt der Dortmunder, „ist keine Wunderwaffe.“
„Bildung wird mit Erwartungen überfrachtet“
El-Mafaalani hat das Bildungswesen von jeder möglichen Perspektive aus kennen gelernt. Als Schüler in Datteln, als Student in Bochum, als Lehrer und Vater in Dortmund. Er unterrichtete an einer Berufsschule, bildete als Hochschuldozent Lehrer und Sozialarbeiter aus. Er war Professor in Münster, koordinierte zwischenzeitlich für das NRW-Familienministerium die Integrationspolitik und diskutierte als Bildungsforscher an der Universität Osnabrück auf so ungewöhnlichen Bühnen wie der „Gamescom“ mit Kritikern.
Und er sagt: Bildung werde mit Erwartungen überfrachtet, die sie gar nicht erfüllen könne.
Nehmen wir die Klimakrise. Das Ansinnen ist klar: Bildung soll helfen, dass wir uns umweltbewusster verhalten und die Klimakrise so entschärfen. Und doch mangelt es gerade bei den Fragen des Klimawandels weder an Erkenntnissen noch an Möglichkeiten, um das Problem zu lösen. Man könnte sogar argumentieren, dass Bildung die Klimakrise verschärft: Ein hoher Bildungsabschluss erhöht die Chance auf einen guten Job und ein hohes Einkommen – und wer viel verdient, lebt nach Studien des Bundesumweltamtes sogar klimaschädlicher. „Je höher das formale Bildungsniveau, desto größer der ökologische Fußabdruck“, fasst El-Mafaalani zusammen.
Hoch gebildet und gefährlich
Und er geht weiter: mit Bildung gegen Kriminalität? Wenn man einen Schulabschluss hat, fällt das Risiko, straffällig zu werden – Investitionen in Bildung verhindern also Straftaten. So lautete schon die Argumentation in einer 2010 für Aufsehen sorgenden Studie der Bertelsmann-Stiftung. Und dennoch: Es seien die Straftaten der besonders Gebildeten, die unser System erheblich schädigten, meint El-Mafaalani. Er erinnert an die Bankenkrise 2008, der zu einem Milliardenschaden geführt hat: „Systemschädigende Kriminalität wird regelmäßig von Menschen mit hohem Bildungsniveau begangen.“
Auch im Kampf gegen rechts sei Bildung keine Allzweckwaffe, mahnt El-Mafaalani. Die Geschichtsbücher seien voll von gebildeten Nazis: „Die krassesten Nazis haben Wagner gehört, waren belesen und haben all das erfüllt, was wir als gebildet verstehen würden“, sagt der Forscher und erinnert: „Solange Rechtsextreme die Ungebildeten waren, die mit Springerstiefeln und lauten Parolen aufgetreten sind, haben sie es nicht geschafft, eine größere Partei zu gründen. Erst seitdem Professoren und Anzugträger auf der Bildfläche erschienen sind, haben wir eine Partei, die in allen deutschen Parlamenten sitzt.“ Tatsächlich gibt es so etwas wie den Rassismus der Akademiker, der in den 30er Jahren die NS-Zeit mit vorbereitet hat. Und auch heute beobachten Politologen, dass mit der Neuen Rechten gut gebildete Personen - Lehrer, Verleger, Professoren - auf der Bildfläche erschienen sind, die wortgewandt sind und einer Partei wie der AfD zuspielen.
Mehr Bildung bringt nicht mehr Gleichheit
Dass Bildung allzu oft als Allzweckwaffe für gesellschaftliche Probleme herhalten muss, liegt für El-Mafaalani an dem Begriff selbst: Bildung bedeute für jeden etwas anderes, sie sei aber immer positiv besetzt und werde idealisiert. „Das ist genial für die politische Diskussion. Immer, wenn jemand nicht mehr weiter weiß, kann er sagen: Wir investieren in Bildung. Und er kann sich sicher sein, dass alle dazu nicken, von der AfD bis zu den Grünen, und trotzdem haben sich alle komplett missverstanden.“
Er selbst könne nicht in einem Satz sagen, was er unter Bildung verstehe. Aber: „Es ist ein großes Problem, dass wir Bildung immer mehr mit akademischer Bildung gleichsetzen und immer weniger mit anderen Kompetenzen. Wenn ich sehe, wie ein Handwerker sich stetig verbessert, Leidenschaft für seine Arbeit entwickelt, die zunehmend komplexer und herausfordernder wird, dann ist es eine Schande, wie wir das in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgewertet haben.“ Bildung sei eine Infrastruktur, sagt El-Mafaalani, „eine notwendige Grundlage zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft“ – sie befähigt uns zu hinterfragen, voranzukommen.
Mehr Bildung schafft nach El-Mafaalanis Analyse aber auch nicht unbedingt mehr Gleichheit. Seit den 60er Jahren ist massiv in das deutsche Bildungssystem investiert worden, es sind neue Schulen, Fachhochschulen und Universitäten gegründet worden, damit mehr Kindern mehr Bildung zugänglich wird und ihre Chance auf gesellschaftliche Teilhabe wächst.
Zwar sei das Bildungssystem insgesamt durchlässiger geworden, gibt El-Mafaalani in seinem Buch zu, doch sei dadurch nicht mehr Bildungsgleichheit entstanden. Er nennt das den Fahrstuhleffekt: Wenn alle von unterschiedlichen Startpunkten aus eine Etage höher fahren (einen höheren Bildungsabschluss erwerben), bleibt der Abstand zwischen den Gruppen dennoch gleich. Zwar machten immer mehr Schüler Abitur. Dadurch würden die Abschlüsse an sich unterm Strich aber weniger wert – nicht die eigene Leistung, sondern andere Faktoren wie gute Beziehungen der Eltern oder teure Investitionen etwa ins Auslandssemester werden ein Kriterium für die spätere Karriere. Einfache und mittlere Abschlüsse würden zudem entwertet. Sie garantierten keinen sicheren Platz mehr in der Gesellschaft. Somit werde die soziale Benachteiligung sogar verschärft.
Bildungsgerechtigkeit statt Bildungsgleichheit
Was muss daraus folgen? Nicht weniger Bildung, aber mehr Entscheidungen. „Wer immer nur sagt, es werde in Bildung investiert, der verschiebt Entscheidungen, aber es braucht Entscheidungen, um Probleme zu lösen.“ Entscheidungen etwa, um nicht Bildungsgleichheit, aber Bildungsgerechtigkeit zu schaffen: El-Mafaalani plädiert für gezielte Förderung derjenigen, die sozial benachteiligt werden. Zentral ist für ihn der Ausbau von Ganztagsschulen mit multiprofessionellen Teams, damit nicht-privilegierte Kinder ihre Lebenswelt und ihren Erfahrungshorizont weiten können.
Am Ende bedeutet das dann auch: Wenn die soziale Ungleichheit abgebaut wird, wird uns auch das nicht zu einer harmonischen Gesellschaft machen. Steigen die Teilhabechancen für Kinder aus benachteiligten Milieus, wollen sich auch mehr Menschen an den gesellschaftlichen Debatten beteiligen. Bildung schafft nicht Konsens, sondern Konflikte – aber treibt uns das nicht voran?
* Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung. Kiepenheuer & Witsch, 272 S., 20 €
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