Bottrop. Carmina Blum aus Bottrop ist im Krieg mit sich selbst. Sie hat eine Angststörung. Wie sie lernte, damit zu leben. Und neue Hoffnung schöpfte.

Ein halbes Leben bestimmt von Angst. Eine Angst, die nicht greifbar, nicht rational, nicht erklärbar ist. Doch Carmina Blum aus Bottrop lebt mit ihr, jede Minute an jedem Tag. Die 27-Jährige fürchtet sich davor, in der Öffentlichkeit zur Toilette gehen zu müssen. Es ist kein Ekel, es ist Scham.

Bereits mit 14 Jahren merkt sie, dass es ihr zunehmend schwerer fällt, in die Schule zu gehen. Ihre Eltern lassen sich zu dieser Zeit scheiden, die Pubertät ist in vollem Gange. „Ich habe festgestellt, dass ich in der Schule immer nervöser wurde. Ich hatte Angst, wusste aber nicht, warum“, erzählt sie rückblickend. Die Ursache mit der Toilette sollte ihr erst viel später bewusst werden.

„Es hat angefangen, mein Leben zu bestimmen“

Sie schleppt das Unwohlsein weiter mit sich herum. Der Alltag fällt ihr schwerer, irgendwann möchte sie nicht einmal mehr mit ihrer Mutter einkaufen gehen. „Mit der Zeit wurde mir klar, dass ich sogar schon Angst habe, bevor ich überhaupt zur Schule losgehe, und abends wach liege, weil ich wusste, dass der nächste Tag wieder genauso furchtbar wird.“ Sie muss immer öfter den Unterricht verlassen, kommt später oder geht früher.

Carmina Blum an ihrem sicheren Ort: ihrer Nähmaschine.
Carmina Blum an ihrem sicheren Ort: ihrer Nähmaschine. © FUNKE Foto Services | Olaf Fuhrmann

Die Furcht äußert sich durch Herzklopfen, Magenschmerzen, Schlaflosigkeit und durch das konstante Gefühl einer Bedrohung, die sich nicht greifen lässt. An der Schule selbst, ihrem Gymnasium in Bottrop, lag dies allerdings nicht. „Ich bin so gerne zur Schule gegangen, wie man das mit 14 halt tut. Große Probleme hatte ich nie.“ Doch der Bauch rumort. Irgendwann beginnt Carmina, eine Stunde früher aufzustehen, um ihren Magen zu beruhigen, mit der Zeit werden es zwei, drei, vier Stunden. „Es hat angefangen, mein Leben zu bestimmen.“

Tabletten, um durch den Tag zu kommen

Sie sucht Hilfe in der Medizin. Am Anfang sind es noch pflanzliche Hefetabletten, die gegen Durchfälle helfen sollen. Später steigt sie auf Loperamid um, ein Opioid, das nicht nur verstopft, sondern auch Schmerzen lindern soll. Wärmflaschen und Kräutertees ergänzen die Selbsttherapie der jungen Frau. Doch es hilft nichts. „Am Anfang habe ich eine Tablette vor der Schule genommen und hatte noch welche für den Notfall mit.“ Ihre Angst verhärtet sich. Spürt sie ihren Magen, nimmt sie sofort eine Tablette.

Sie bleibt aber nicht untätig, sucht ihren Hausarzt auf. Der schickt sie mit 15 Jahren auf eine Kur nach Bad Kreuznach. Sechs Wochen lang geht es nicht um ihre psychische Verfassung, sondern um Sport. „Ich wog danach nur noch 39 Kilo, es war eher eine Art Abnehm-Camp. Ernst genommen wurden meine Probleme nicht.“ Das sollte ihr noch öfter passieren. Der innere Konflikt spitzt sich zu.

Auch Therapien helfen nicht

Mit der Zeit verlässt sie ihr Zuhause so gut wie gar nicht mehr. Ihre Leidenschaft, den Balletttanz, muss sie endgültig aufgeben. Ihr Verhalten bleibt nicht unbemerkt. Carminas Mitschüler beginnen, sich lustig zu machen. „Ich sah müde aus, hatte einen individuellen Kleidungsstil und verschwand ständig aus dem Unterricht“, erinnert sie sich. „Wenn ich in der Pause über den Schulhof ging, habe ich aus jeder Ecke ein neues Gerücht über mich gehört.“ Sogar ein Lehrer kann sich das Mitlachen einmal nicht verkneifen. „Hilfreich war das nicht.“

Sie verliert den Anschluss, die Fehlstunden häufen sich. Immer wieder sucht sie sich therapeutische Hilfe. „Niemand hat es geschafft, mir Werkzeuge an die Hand zu geben, um mit meiner Angst umzugehen. Deshalb blieben die Tabletten, wenig Nahrung und Rückzug“, sagt sie. Stationäre Klinikaufenthalte und verschiedene Therapeuten diagnostizieren ihr über die Jahre: Stress durch Pubertät und die Scheidung der Eltern. „Sie meinten immer, ich wolle meine Eltern wieder zusammenzubringen. Das war nie der Fall.“

Schulabbruch als trauriger Höhepunkt

Am Ende nimmt sie rund 40 Tabletten pro Tag, isst und trinkt nur das Nötigste. Im Alter von 17 Jahren bringt auch das nichts mehr. Bei einem Klinik-Aufenthalt lernt sie, sich endlich vom Loperamid zu trennen. Die Angststörung ist ihr mittlerweile diagnostiziert worden. Doch die verlorene Schulzeit kann sie nicht aufholen. „Der Direktor hat mich immer unterstützt. Irgendwann war aber klar, dass ich die Schule so nicht mehr weiter besuchen kann.“ Sie muss die Oberstufe abbrechen. Der Tiefpunkt.

Ein Jahr lang verkriecht Carmina sich in ihrem sicheren Umfeld. In dieser Zeit beschäftigt sie sich vor allem mit Mode, lässt sich zum 18. Geburtstag eine Nähmaschine schenken. „Mode und kreatives Nähen hat mir Spaß gemacht, da konnte ich mich austoben.“ Sie näht Unikate für Familie und Freunde. Doch Carmina möchte mehr. Sie will Teil der Gesellschaft sein, ihren Beitrag leisten.

Ehrenamt im Seniorenzentrum

Die folgenden Jahre gleichen einer Achterbahnfahrt; mal geht es ihr besser, mal schlechter. Sie macht sogar ein Praktikum in einer Maßschneiderei, eine Ausbildung ist wegen der Verpflichtungen für sie allerdings nicht denkbar. Sie versucht sich in mehreren kleinen Jobs, bevor sie 2016 in einem Seniorenzentrum ein Ehrenamt antritt und einen Lehrgang zur Betreuungskraft absolviert. Das ist gleich nebenan, das ist kein Problem, meistens zumindest. Bis heute ist sie dort für die künstlerische Beschäftigung der Senioren zuständig.

Noch immer ist ihr Leben von ihrer Tagesform abhängig. „Ich weiß mittlerweile, wie ich mit meiner Symptomatik umgehen muss, aber ich schaffe es nicht alleine.“ Sie steht auf mehreren Wartelisten für eine Verhaltenstherapie. Carmina kämpft täglich – gegen sich selbst. „Mein Kopf hält mich davon ab, zu tun, was ich möchte.“

Etsy-Shop als Eintrittskarte in die Gesellschaft

Außer beim Nähen. Da kann die 27-Jährige ihre Begabung in Bahnen leiten lassen. „Meine Familie wollte schon lange, dass ich meine Sachen mehr Menschen anbiete. Auch das Arbeitsamt fand die Idee gut.“ Auf der Internet-Plattform Etsy bietet sie unter dem Namen „Cohlenstoff“ seit Oktober 2019 unterschiedlichste Dinge an; Utensilos, Federmäppchen oder Kulturtaschen. Mal sind die Stoffe bunt und gemustert, mal im klassischen Ruhrpott-Stil mit Schlosserflanell. Die Mundpropaganda in Bottrop hat sich schon bewährt. Carmina ist glücklich, durch diese Arbeit zumindest ein kleiner Teil der Gesellschaft sein zu können. „Kunst und Kreativität erfüllen mich. Ohne hätte ich die letzten 14 Jahre nicht überstanden.“