Essen. Plötzlich vermissen wir Freiheiten, die wir bisher gar nicht so sehr zu schätzen wussten. Warum der Drang bei Einschränkungen besonders stark ist.
Ach, was waren das für schreckliche Wochen, wie im Gefängnis! Zumindest haben nicht wenige von uns die Zeit des Lockdowns und der Isolation bisher so empfunden, es gibt wohl niemanden, dem die Situation nicht gehörig aufs Gemüt geschlagen ist. Und wenn selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel in dieser Woche von einer „demokratischen Zumutung“ und einer Einschränkung unserer „existenziellen Rechte und Bedürfnisse“ sprach, muss ja was dran sein.
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Aber manche verspüren in dieser Situation plötzlich einen bisher ungeahnten Freiheitsdrang an sich. Ganz klar: Kontaktverbote, Reisebeschränkungen, Öffnungsverbote für Geschäfte, Gastronomie und gar für Kirchen, das sind Eingriffe in unsere Freiheitsrechte, die allein durch die Gefahr für die Volksgesundheit begründet sind.
Freiheitsdrang ist kein Verbrechen
Aber das ist vielen nicht Grund genug, nicht umsonst ist die „Freiheit der Person“ in Artikel 2 und 104 des Grundgesetzes verankert – auch wenn sie dort schon ihre Grenzen aufgezeigt bekommt, und zwar durch Gesetze. Sogar das Strafrecht lässt Milde walten: Wenn ein Häftling aus dem Gefängnis ausbricht, dann bleibt er straffrei, er folgt ja nur seinem Freiheitsdrang.
Dieser Freiheitsdrang, er wohnt dem Menschen inne (und nicht zu vergessen: sogar dem Tier). Aber mit der Freiheit verhält es sich komplex: Eine Beschränkung dieser Freiheit nimmt man meist erst dann wahr, wenn man an Grenzen stößt, wenn man Dinge nicht tun kann, die man vorher für selbstverständlich hielt. Solange der Käfig groß genug ist, weiß man gar nicht, dass einem die Freiheit fehlt. Ein Beispiel: In einem Europa der geschlossenen Grenzen fühlt man sich in seinem Land eingeschlossen – aber es hätte ja auch sein können, dass man monatelang gar nicht den Drang verspürt hätte, über eine Grenze zu gehen. Und – hier vergrößern wir gedanklich den Käfig: Aber würde man sich in einem Europa eingeschlossen fühlen, in dem nur die Außengrenzen geschlossen sind? Vielleicht, aber hier wäre das Gefühl des Eingesperrtseins bei weitem nicht so ausgeprägt.
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Der Freiheitsdrang hat in der Geschichte die größten Errungenschaften hervorgebracht: Die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung (das ist dieses Ding mit dem etwas komplizierten Anfang: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden…“) verankerte 1776 auch die Freiheit des Menschen – mit dem himmelschreienden Makel, dass Frauen, Sklaven und freie Schwarze von diesen Rechten ausgenommen waren. Und die Französische Revolution wurde mit dem Sturm auf die Bastille 1789 begleitet vom ungleich griffigeren Motto „Liberté, Égalité, Fraternité“, stand demnach im Zeichen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, die Freiheit zuallererst…
Zwischen Revolution und Rauchverbot
Der Freiheitsdrang hat Staaten geboren und zu Fall gebracht, in der deutschen Geschichte zuletzt, als am 9. November 1989 die Berliner Mauer geöffnet und das Ende der DDR damit faktisch besiegelt wurde („Wir sind das Volk“) – eine friedliche Revolution.
Einschränkungen der Freiheit hat es auch in Deutschland freilich lange vor Corona zuhauf gegeben, wir erinnern uns an die endlosen Diskussionen um das Rauchverbot an öffentlichen Orten, das in NRW vor gerade mal sieben Jahren in Kraft trat – und das noch lange nicht in allen Bundesländern einheitlich ist. Denn immer wieder gibt es überraschte Gesichter bei Rheinländern und Westfalen, die in Baden-Württemberg Gaststätten oder Diskotheken besuchen.
Und jetzt wagen wir mal gar nicht, über die endlose Debatte über das Tempolimit auf deutschen Autobahnen zu reden. Oder doch?
Ein Tempolimit (wenn auch in Städten) spielte nämlich eine Rolle, als Psychologen der Universität Waterloo unter Leitung von Kristin Laurin zwei unterschiedliche Reaktionen auf die Einschränkung von Freiheiten untersucht haben. Die einen Menschen neigen zur „Rationalisierung“, das heißt: Sie reden sich die Umstände schön, freunden sich damit an, sie nehmen sie als gegeben hin – ganz grob nach dem Motto: „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht zu ändern ist.“ Demgegenüber steht die sogenannte „Reaktanz“: innerer Protest. Je weniger man etwas haben kann, desto stärker ist der Wunsch danach. Man verbiete einem Kind die Schokolade – schon bekommt es umso größeres Verlangen nach der Süßigkeit.
Akzeptieren oder rebellieren?
Nun machten sie einen Versuch mit drei Gruppen, die Informationen zu den Plänen für ein niedrigeres Tempolimit in geschlossenen Ortschaften bekamen. Der ersten Gruppe wurde das Limit als bereits beschlossenes Gesetz dargestellt. Die zweite Gruppe erfuhr, dass die Einführung noch in der Diskussion sei. Die dritte Gruppe erhielt keine Infos. Nun sollten die Probanden entscheiden, wie stark sie die neue Regelung unterstützten.
Was herauskam? Die größte Zustimmung ernteten die Pläne in Gruppe 1, weil man das Gesetz als gegeben hinnahm (starke Rationalisierung). Die größte Ablehnung erhielt das Gesetz in Gruppe 2, weil die Befragten angesichts der unsicheren Lage ihrem inneren Widerspruch Gehör schenkten (starke Reaktanz). Und die Gruppe ohne Infos? Lag dazwischen. Solche Ergebnisse ließen sich etwa bei der von Wissenschaftlern unterstellten Einführung eines Handyverbots am Steuer leicht reproduzieren – und lassen sich auf andere Bereiche übertragen.
Entscheidend für unser Freiheitsgefühl ist neben den äußeren Umständen auch immer das subjektive Empfinden. Und da sind wir in den vergangenen Wochen auch ein wenig empfindlich geworden. Derzeit sieht sich mancher schon erheblich beschnitten, wenn er für ein paar Wochen nicht die Knüller-Angebote im Schnäppchenmarkt einsacken kann – oder nicht wie gewohnt dem Vordermann an der Supermarktkasse mit dem Einkaufswagen in die Hacken fahren darf.
Die Freiheit ist ein wenig erforschter Bereich, jedoch macht sich das John-Stuart-Mill-Institut für Freiheitsforschung Jahr für Jahr darum verdient – und erstellt einen Index aufgrund von repräsentativen Umfragen. Wie wird dieser Index wohl für das Jahr 2020 aussehen? Um das zu sagen, ist es noch zu früh, auch wenn man stark davon ausgehen kann, dass er in der ersten Jahreshälfte deutlich nach unten gesunken ist. Bis jetzt liegen erst die Zahlen bis 2017 vor – und die besagen, dass zu diesem Zeitpunkt gut 51 Prozent der Deutschen angeben haben, dass sie sich subjektiv frei bis sehr frei gefühlt haben.
Ein deutliches Murren im Land
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Das klingt immer noch nicht nach einem hohen Wert, ist aber immerhin eine Mehrheit – in Deutschland herrscht also ein Klima der Freiheit. Die Autoren sprachen von einem Klima der „Beruhigung“ und „Stabilisierung“ – und so ist auch die trotz allen Murrens eher friedliche Stimmung im Lande zu erkennen.
Und klar: Im Moment murren und knurren wir unter einzelnen Maßnahmen der Politik – doch es gibt da draußen immerhin ein gesundheitsgefährdendes Virus, das man nicht so einfach wegdiskutieren kann und das uns zum Rationalisieren zwingt – bis irgendwann ein Impfstoff oder Heilmittel gefunden ist. Und am Ende steht die Aussicht, dass man sie bald wieder erlangt hat – und dann noch mehr zu schätzen weiß: die gute, alte Freiheit.