Bochum. Als soziale Wesen überleben wir in der Gruppe besser. Sind die Deutschen, die als kontaktarme Landsleute gelten, zur Zeit von Corona besser dran?
Ende 2019 brachte es eine repräsentative Umfrage ans Licht: In Sachen Freundschaft sind die Deutschen schwach. Mehr als 50 Prozent der erwachsenen Bundesbürger, laut Markt- und Meinungsforschungsinstitut YouGov, haben nur maximal ein bis zwei Freunde – oder überhaupt keine. Spätestens seit dem 13. März – als NRW-Ministerpräsident Armin Laschet die Parole ausgab: „Alle sozialen Kontakte werden in der nächsten Zeit ruhen müssen“ – könnte man sich fragen, ob diese Freundesarmut nicht etwas ist, was uns zum Vorteil gereicht. Zudem jeder fünfte Mensch in Deutschland, wie das Statistische Bundesamt 2019 bekannt gab, ohnehin alleine lebt. Aber: Trifft Menschen, die sich ohnehin mit Nähe schwer tun, deshalb der Verzicht darauf auch weniger hart?
„Wir sind soziale Wesen, das zeichnet uns Menschen aus“
„,Social distancing’, sozial Abstandhalten, ist ein neuer Begriff“, so Jürgen Margraf, „der jetzt, im Zuge der Corona-Krise, häufig Verwendung findet. Aber was damit gemeint ist, ist räumliche Distanz. Soziale Nähe hingegen ist etwas, das wir brauchen. Wir sind soziale Wesen, das zeichnet uns Menschen aus.“ Das Einhalten der räumlichen Distanz sei bereits ein Problem, so der Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Ruhr-Uni Bochum: „Viele eingefahrene Verhaltensweisen laufen im Autopilot ab. Der kennt nicht den Ellenbogengruß oder den Gruß mit dem Kniegelenk, der ist immer noch auf Hand- oder Küsschengeben programmiert.“ Sich neue Verhaltensmuster bewusst zu machen, braucht Zeit.
Wir brauchen mehr soziale Nähe, als wir denken
Dagegen viel tiefer und unauslöschlich in uns verankert: der Wunsch nach sozialer Nähe. „Wir brauchen sie mehr, als wir denken. Selbst in Momenten, in denen man am alleralleinsten ist und sein möchte, ist man viel mehr mit den anderen Menschen verstrickt und verbunden, als man meint“, sagt der 63-Jährige. Ein erschütternder Beleg dafür: 90 Prozent aller Menschen, die mit der Absicht, sich zu töten, in San Francisco von der Golden Gate Bridge sprangen, taten das nicht mit dem Gesicht zum Meer, sondern mit dem Gesicht zur Stadt: „Sie wollten, bis ganz zum Schluss, die Welt im Blick behalten.“
„Kleine Kinder brauchen Zuwendung genauso sehr wie die Älteren“
Diese Verbundenheit hat einen evolutionären Hintergrund: „Unsere Vorfahren lebten in kleinen Verbänden. Der Blick auf die anderen bot Schutz. Dass alle in die gleiche Richtung schauen, war sehr wichtig: ,Ich weiß, da ist ein Leopard, aber gemeinsam sind wir stark.’“ Aber was macht das heute mit uns? Wenn wir unsere Freunde und Verwandten eigentlich umarmen wollen, aber wissen, dass wir das aus Vernunftgründen, um das Virus einzudämmen, nicht mehr dürfen? „Körperliche Berührungen sind sehr wichtig“, weiß Margraf, „kleine Kinder brauchen Zuwendung genauso sehr wie die Älteren. Was mich in dieser Tage mit am meisten erschüttert hat, war zu sehen, wie in Bergamo (in der Lombardei in Italien) Menschen alleine sterben und ihnen der Pfleger das Handy ans Ohr hält, damit sie sich von ihren Lieben verabschieden können.“
„Manche Dinge drücken wir körperlich aus.“
Auch unser Bewusstsein braucht „Verkörperung“: „Manche Dinge drücken wir körperlich aus und merken sie uns körperlich, nicht semantisch.“ Gerade in der rational betonten Gesellschaft werde das sehr unterschätzt. „Man kann den Verlust von Nähe eine Weile aushalten. Aber wenn das länger dauert, ist das so ähnlich wie mit dem Wasser und dem Durst. Man hat zwar mehr Durst, aber man kommt auch mit weniger Wasser aus. Das geht, aber es ist trotzdem nicht gesund.“
So ganz von der Hand zu weisen ist die These, dass weniger in der Corona-Krise mehr ist, trotz allem nicht: „Normalerweise geht es den zugewandten und sehr geselligen Italienern besser als uns, jetzt können wir Deutschen vorübergehend unsere mangelnde soziale Verbundenheit nutzen.“ Wie wird sich die Angst vor dem Corona-Virus und seinen vielfältigen Folgen langfristig auswirken? Der Psychologe wagt eine Prognose: „Vor unserem evolutionären Hintergrund ist es eigentlich zu erwarten, dass es zu einer Solidarisierung kommt.“
Wir kümmern uns unglaublich aufopfernd um unseren Nachwuchs
Auch Marlies Pinnow sieht gute Voraussetzungen: „Grundsätzlich sind wir soziale Wesen. Nicht nur, weil wir alle den Jahrmillionenvorteil teilen, dass wir in der Gruppe besser überleben. Wir kümmern uns unglaublich aufopfernd um unseren Nachwuchs, und wir pflegen auch unglaublich – ohne dafür Geld zu verlangen. Das ist eine Säule in unserer Republik.“ Die Psychologin leitet an der Ruhr-Uni die Arbeitsgruppe Motivationspsychologie und ist an der Uni Witten-Herdecke tätig. Mit ihrem Bochumer Team erforscht sie die persönlichen Unterschiede in der Handlungssteuerung von Kindern und Jugendlichen: „Wer von ihnen tut was und warum?“ Im Moment sind dem Tun allerdings enge Grenzen gesetzt.
„Jugendliche sind extrem neugierig, sie wollen sich und die Welt entdecken.“
Kinder und Jugendliche haben flächendeckend „Homeoffice“. Obwohl die Osterferien in NRW nun erst beginnen, sind Kitas und Schulen schon länger geschlossen. Sich mit den Kindern aus der Krabbelgruppe treffen, zusammen auf dem Spielplatz herumtoben oder mit der Clique um die Häuser ziehen, ist auch nicht drin. Was macht das speziell mit dieser Gruppe?
„Für kleinere Kinder ist das nicht so einschneidend, sie können sich gut selbst beschäftigen“, sagt die 61-Jährige, „aber bei den Jugendlichen sieht das ganz anders aus. Sie sind extrem neugierig, sie wollen sich und die Welt entdecken. Sex und Partys und Alkohol und alles ist neu. Man will rausgehen und gesehen werden, um ein Gefühl dafür zu bekommen: ,Wie komme ich an? Was ziehen die anderen an?’“ Auf all das sollen sie verzichten: „Etwas, wozu Jugendliche oft noch gar nicht in der Lage sind. Wobei gleichzeitig auch sehr hohe Dopamin- und sehr hohe Testosteronwerte im Spiel sind.“ Vor diesem Hintergrund findet Pinnow das „Bashing“ von Jugendlichen, die anfangs Partys feierten, nicht fair: „Sie sollten innerhalb von 24 Stunden etwas begreifen, was man nicht fühlt, was man nicht riecht und nicht sieht. Etwas, das nicht erfahrbar ist. Man versteht es, aber man begreift es nicht.“
„Das Netz ist nicht immer nur sozial, sondern manchmal auch ganz schön gemein.“
Während die vorherige Generation mit den Eltern ums Familientelefon kämpfte und lange auf Liebesbriefe warten musste, eröffnen heute Handys und soziale Netzwerke ganz andere, unmittelbare Möglichkeiten, miteinander in Kontakt zu treten. Macht es das leichter? „Das Netz ist nicht immer nur sozial, sondern manchmal auch ganz schön gemein“, sagt die Bochumerin, „man kann jemanden auch isolieren. Das ist sehr ambivalent.“
Auch Psychologe Margraf sieht das kritisch: „Das kommt darauf an. Junge Leute sind über ihr Handy total vernetzt – und das ist auch gut so. Auch Skypen ist gut. Facebook ist schlecht. Solche Wettbewerbsplattformen schaffen kein Miteinander. Stattdessen schüren sie Konkurrenz: weiter, höher, schneller.“ Soziale Nähe, emotionale Wärme und Umarmungen in Gedanken – all das fühlt sich anders an. Letztere hoffentlich bald wieder auch in echt.
>>>Telefonpaten oder Hilfe für die Corona-Risikogruppe - eine Auswahl
Hilfe beim Einkaufenoder Rezepte abholen: Unterstützung gibt’s etwa bei Ehrenamtsagenturen (Bochum: Tel. 0234 /610 577 81; Essen: 0201/8391490). Besuche am Telefon? Das Seniorenbüro für ältere Menschen in Bochumvermittelt „Telefonpaten“ (Tel. 0234 / 927 86 390). Ähnliches Konzept gibt’s bei den bundesweit tätigen „Telefon-Engeln“ vom Verein Retla organisiert (kostenfrei: Tel: 089/18 91 00 25) Auch die Freiwilligen-Agentur Dortmund (Tel. 0231/ 50 10 606) hilft bei Besorgungen. In Esseninformiert zudem der Pflegestützpunkt beim Amt für Soziales und Wohnen (Tel. 0201 / 88 500 89, essen.de/senioren) Senioren über Hilfsangebote. Auch Kirchengemeinden unterstützen ihre Mitglieder.