Seelsorger erzählen, was die Menschen bewegt. Sie begleiten Touristen im Urlaub, Gefangene in der JVA, Verlorene im Netz oder Zirkusleute.

Touristen-Seelsorger

Bernd Wolharn (51) – der katholische Priester verbringt drei Wochen im Sommer auf der niederländischen Insel Texel, um die Menschen im Urlaub zu begleiten: „Wir machen es den Menschen einfacher, wir sind nicht in einem Pfarrhaus, nicht hinter Kirchenmauern, wir sind in einem Wohnwagen. Es gibt Leute, die überrascht sind, wenn sie zum Campingplatz in De Koog kommen: ,Da muss man nicht beten?’ Oder wir fragen nicht: ,Bist du überhaupt katholisch?’

Ich mache das nun schon im 26. Jahr. Ich habe als Student angefangen und erfahren, dass die Menschen in dieser Zeit viel entspannter sind, sich öffnen, richtig motiviert sind, über Glaubens- und Lebensthemen zu sprechen. Es gibt Leute, die zu Hause ein schlechtes Jahr hatten, weil jemand gestorben ist, eine Beziehung auseinandergebrochen ist. Das kann dann mit Abstand auf der Insel noch mal ganz anders zum Thema werden. Wo Leute ihr Herz ausschütten, weil sie sagen, was auf der Insel gesagt worden ist, das bleibt auf der Insel.

Es gibt auch sehr schöne Themen. Ein Paar, das Silberhochzeit gefeiert hat und nach einem Segen fragt. Ein Sonnenaufgangsgottesdienst am Leuchtturm. Da stehen 60 Leute mitten in der Nacht mit Fahrrädern, um Gottesdienst zu feiern. Seit 50 Jahren bietet das Bistum Essen auf Texel Seelsorge für deutschsprachige Touristinnen und Touristen an. Wenn die Menschen nicht zur Kirche kommen, dann kommt die Kirche zu den Menschen.“

Gefängnis-Seelsorger

Michael Lucka (50) arbeitet als evangelischer Seelsorger in der JVA Essen: „Gerade über die Feiertage gehen die Gedanken nach draußen. Was passiert mit den Menschen da, wenn ich inhaftiert bin, wie geht es mit meiner Frau weiter? Wie schön wäre es, wenn ich jetzt da wäre, bei meinen Kindern, ich könnte mit ihnen einen Ausflug machen. Wenn es Kinder gibt, ist das das Schlimmste für Gefangene. Ich sehe es als meine Aufgabe an, diese sozialen Beziehungen zu den Familien zu stärken. Ich sehe das auch als eine Pflicht des Vollzugs, weil das die Anker nach draußen sind, die Anker der Hoffnungen. Deswegen möchte man nicht wieder auf krumme Wege geraten, weil die Kinder so wertvoll sind, die Frau, die da zu einem hält.

„Ich bin kein Streichelseelsorger“, betont Michael Lucka (r.), evangelischer Pfarrer an der JVA Essen. Links: sein Kollege, der katholische Gefängnis-Seelsorger Klaus Schütz.
„Ich bin kein Streichelseelsorger“, betont Michael Lucka (r.), evangelischer Pfarrer an der JVA Essen. Links: sein Kollege, der katholische Gefängnis-Seelsorger Klaus Schütz. © Lars Heidrich

Das Thema Glauben spielt hier eine größere Rolle, als man draußen denkt. In der Bibel rufen die Menschen in der Not zu Gott, und hier ist das auch so, die Leute rufen zu Gott, bitten um Vergebung. Es geht viel um Schuld und Vergebung, auch darum, sich selbst zu vergeben. Aber ich bin kein Streichelseelsorger! Das ist mir ganz wichtig. Die Leute sind nicht umsonst hier. Manchmal kriegen sie auch verbal einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf, damit sie aufwachen, damit sie die eigene Schuld entdecken können und merken, ich kann nicht immer sagen: ,Das waren die anderen!’ Ich bin derjenige, der Schuld auf sich geladen hat.

Es gibt hier viel Wut, aber auch viel Ohnmacht. Es sind ganz einfache Menschen dabei, die nicht wegen riesiger Delikte hier sind, die aber ihr Leben nicht auf die Kette bekommen. Oft haben sie selbst Gewalt in der Kindheit erfahren. Sie haben riesige Angst davor, was passiert mit mir, wenn ich wieder draußen bin? Werde ich rückfällig? Nehme ich wieder Drogen? Verschulde ich mich wieder? Das Leben draußen ist für viele Menschen sehr kompliziert.

Einsamkeit ist ein großes Thema. Da fließen auch Tränen. Viele Gefangene stellen sich Fotos von den Familienmitgliedern auf. Da fliegen die Gedanken zu den Familien. Ich sage immer: ,Die Menschen, an die Sie denken, die merken das, die spüren das.’ Das ist nicht nur ein tröstender Gedanke, ich bin davon überzeugt. Das ist auch wichtig für die Kinder. Ich fordere die Gefangenen auf: ,Fragen Sie, wann die Kinder die nächste Arbeit schreiben. Okay, Dienstag, um die Uhrzeit? Ich denke an dich!’ Das ist eine Brücke nach draußen.“

Chat-Seelsorger

Jan Ehlert (33) aus Essen arbeitet als evangelischer Pfarrer in einer Gemeinde in Troisdorf. Er ist für die Online-Kommunikation im Landeskirchenamt in Düsseldorf zuständig und schreibt mit Hilfesuchenden aus ganz Deutschland im Internet auf chatseelsorge.de: „Die Menschen können dort, ohne sich registrieren zu müssen, in den Chat einloggen. Zweimal die Woche, montags und mittwochs, von 20 bis 22 Uhr. Da gibt es einen öffentlichen Chat-Bereich, der moderiert wird. In dem können alle alles lesen. Und dann kann man bei einem Seelsorger einen Privat-Chat anfragen, dann schreibt man nur zu zweit, anonym. Und diese Anonymität hilft den Menschen, sich zu öffnen.

Jan Ehlert, evangelischer Pfarrer und Chat-Seelsorger.
Jan Ehlert, evangelischer Pfarrer und Chat-Seelsorger. © privat

Es ist etwas anderes als von Angesicht zu Angesicht. Ich musste mich erstmal daran gewöhnen, ich weiß ja nicht mal das Alter, das Geschlecht. Ich bin darauf angewiesen, was mir derjenige schreibt. Man muss mehr nachfragen. Aber ich bin erstaunt, wie viele Emotionen man auch zwischen den geschriebenen Zeilen entdecken und erspüren kann. Ich erinnere mich an eine Situation, wo ein Mensch schrieb, er würde sich nicht trauen, manche Dinge auszusprechen, nicht mal seinem Therapeuten gegenüber. Aber sie aufschreiben, das konnte er.

In den meisten Fällen beschäftigen die Menschen Probleme im Umgang mit anderen, zwischenmenschliche Konflikte, bei der Arbeit, mit dem Partner, den Verwandten: Wie gehe ich damit um? Ich versuche, meist nicht zu raten. Ich lasse den Menschen erzählen, frage, was er dabei denkt, fühlt, was er schon probiert hat, um das Problem zu lösen. Meistens ergeben sich daraus mögliche Schritte. Oft wissen die Leute ganz genau, was sie tun müssen und brauchen es nur noch mal aufzuschreiben oder jemanden, der ihnen das sagt. Es ist viel hilfreicher, wenn die Leute selbst auf die Idee kommen, dann kommt sie nicht nur im Kopf an, sondern auch im Herzen :-)“

Zirkus- und Schausteller-Seelsorger

Torsten Heinrich (55) – der evangelische Pfarrer aus Hessen reist durch die Republik, um für seine Gemeinde der Reisenden da zu sein: „Die Familien leben permanent zusammen, oft auf sehr engem Raum. Die Schausteller schlafen im Wohnwagen, stehen auf, gehen ins Geschäft, alle beide oder alle drei, oder vier, je nachdem wie viele von einer Familie in so einem Geschäft stehen. Diese Nähe hat schöne Seiten. Aber es bringt auch besondere Herausforderungen: Da gibt es den einen oder anderen Knatsch und da kann man dann nicht irgendwohin ausweichen, man steht trotzdem im Geschäft und muss freundlich sein.

Torsten Heinrich ist der Seelsorger der reisenden Gemeinde.   
Torsten Heinrich ist der Seelsorger der reisenden Gemeinde.   © privat

Viele fragen sich auch: Was wird mit der Bildung der Kinder, wenn sie von Standort zu Standort die Schule wechseln müssen? Daher nehmen einige Eltern die Mühe auf sich und fahren ihre Kinder jeden Tag 50, manchmal 100 Kilometer zur Heimatschule, damit sie nicht wechseln müssen. Das ist eine Belastung.

Genau wie die größer werdende Bürokratie. Wenn ein Zirkus um 12 Uhr eröffnet, kann es bis null Uhr gehen – da gibt es keinen Acht-Stunden-Tag. Aber mit Einführung des Mindestlohns, den Anforderungen für Pausen, müssen sie das neu regeln. Ebenso wenn ihre Zugmaschine ein älterer Diesel ist, sie aber nicht einmalig in eine Stadt mit Umweltschutzauflagen fahren dürfen, obwohl der Platz 500 Meter hinter der Grenze liegt. Gegen solche Regeln hat prinzipiell niemand etwas, aber sie machen es komplizierter.

Das Unterwegs-Sein ist für sie dagegen kein Problem. Eher der Stillstand im Winter. Solange die Räder rollen, ist alles gut.“

Seelsorger-Ausbilderin

Ulrike Mummenhoff (55) unterrichtet beim Rose-Projekt ehrenamtliche Seelsorger – eine Initiative des Evangelischen Kirchenkreises Gladbeck - Bottrop - Dorsten (rose-kirche.de): „Krisen im Leben sind ja völlig normal. Wenn man eine Ausbildung anfängt, eine Arbeit. Und es gibt Krisensituationen, auf die wir noch weniger vorbereitet sind: Krankheit, Handicap, Arbeitsverlust, Familienstreitigkeiten. Dann ist es gut, wenn Menschen da sind, die Zeit haben und zuhören.

Ulrike Mummenhoff, evangelische Pfarrerin, bildet ehrenamtliche Seelsorger aus.
Ulrike Mummenhoff, evangelische Pfarrerin, bildet ehrenamtliche Seelsorger aus. © Timo Maczollek

Pfarrer sind quasi automatisch Seelsorger. Doch jeder Mensch kann Seelsorger werden. Ich unterscheide zwischen Gaben und Fähigkeiten: Es gibt Fähigkeiten, die kann man in einer Ausbildung lernen. Aber es bedarf auch bestimmter Gaben. Das ist erstmal der Wunsch, einen anderen Menschen annehmen zu wollen, auch wenn einem ein Lebensentwurf völlig fremd ist.

Beim Rose-Projekt sind verschiedene Menschen dabei, aus der Pflege, ein Jurist, ein Finanzbeamter, eine Bauingenieurin. Ihr Einsatz ist unterschiedlich: Krankenhaus, Altenheim – das ist ein ganz besonderer Ort, da geht es darum, sich mit der eigenen Lebensgeschichte zu versöhnen.

Ich glaube, die Menschen, die Seelsorger werden, haben selbst die Erfahrung gemacht, dass es ihnen bei Krisen nach einem Gespräch besser ging. Es sind Menschen, die Menschen mögen und wissen, dass es guttut, miteinander zu reden.“