Dortmund. Warum leiden die einen unter kleinsten Veränderungen, während andere selbst größte Schicksalsschläge meistern? Antworten eines Experten.

Wer wünscht sich das nicht, dass im Leben alles glattgeht? Und dann steigt man wie jeden Morgen ins Auto – und hat einen Unfall. Dann geht man wie jeden Tag zur Arbeit – und der Chef kündigt einem. Dann kommt man wie jeden Abend nach Hause – und der liebste Mensch sagt: „Da gibt es jemand Neues.“

Als ob einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird, beschreiben Menschen eine Lebenskrise. Als ob sie fallen würden und keinen Halt fänden. Dabei müssen Lebenskrisen nicht einen Absturz ins Bodenlose bedeuten. Im Gegenteil, viele Menschen sind erst danach in der Lage, Neues zu wagen – und wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Auch wenn das ganz am Anfang der Krise unvorstellbar erscheint.

Man kann es gar nicht fassen

„Bei traumatischen Lebenskrisen stehen die Menschen am Anfang unter einer Art Schock“, sagt Johannes Ketteler, Leiter der Beratungsstelle Krisenzentrum in Dortmund. „Man kann gar nicht fassen, was da passiert ist.“ Die Menschen schlafen nicht gut, können sich nicht konzentrieren, fühlen sich unsicher. „Für die Betroffenen ist es zunächst wichtig, zu verstehen, dass diese Symptome eine normale Reaktion in einer unnormalen Situation sind“, sagt der Sozialpädagoge und Systemische Therapeut.

Der Sozialpädagoge Johannes Ketteler leitet die Beratungsstelle Krisenzentrum in Dortmund.
Der Sozialpädagoge Johannes Ketteler leitet die Beratungsstelle Krisenzentrum in Dortmund. © Andreas Buck | Andreas Buck

Es sei gut, sich zunächst zu stabilisieren. Also sich etwas Gutes zu tun, sich im Alltag in der Familie oder im Beruf etwas zurückzunehmen, hier und da Verantwortung abzugeben. „Viele Leute meinen, sie müssten ihre Probleme selbstständig lösen und möchten nicht andere damit belasten.“ Aber sich vertrauten Menschen zu öffnen, die erstmal nur zuhören und nicht gleich Ratschläge geben, sei ein entscheidender Schritt, um klarer zu sehen – und dann irgendwann auch neue Wege zu erkennen.

Die Krise akzeptieren

Vielen gelingt es so, nach einiger Zeit, die Krise zu akzeptieren und ihr Leben nach diesem Tiefpunkt neu auszurichten. Und dann denken sie Ketteler zufolge nach Monaten: „Ich weiß, da ist mir etwas Schreckliches passiert, aber es belastet mich im Hier und Jetzt nicht mehr.“

„Eine traumatische Erfahrung ist eine seelische Verletzung“, erklärt der 60-Jährige. „In der Regel helfen die Selbstheilungsprozesse.“ Aber während die einen gesunden oder vielleicht sogar an der Krise wachsen, gelingt anderen diese Anpassung nicht. Sie benötigen professionelle Hilfe. „Die Wunde entzündet sich.“

Aber warum ist das so? Warum überstehen die einen selbst die größten Schicksalsschläge fast unbeschadet, während die anderen von der vermeintlich kleinsten Veränderung aus der Bahn geworfen werden? „Ob ein Mensch aus einer Krise herauskommt oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab“, sagt Ketteler. Menschen, die in ihrem Leben schon die Erfahrung gemacht haben, dass sie schwierige Situationen bewältigen können, gingen optimistischer an Probleme heran. „Sie haben mehr Resilienz, also Widerstandskraft.“

Das sei nicht nur eine Frage der Persönlichkeit, sondern zum Beispiel auch, ob jemand Menschen um sich hat, die ihn unterstützen. Auch die Fähigkeit, Hilfe und Wege zu erkennen und wahrzunehmen, spiele dabei eine Rolle.

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Neben den Schicksalsschlägen, die Menschen verarbeiten müssen, geraten sie auch in Veränderungslebenskrisen. „Es gibt in unserem Leben immer wieder Abschnitte, wo wir uns an neue Lebensverhältnisse anpassen müssen.“ Man kommt in die Schule, macht eine Ausbildung, beginnt eine Partnerschaft, gründet eine Familie, geht in Rente. Doch nicht allen gelingt es, sich angemessen der neuen Situation zu stellen.

Wenn zum Beispiel die erwachsenen Kinder ausziehen und Eltern nicht loslassen können: Dann mischen sich Mutter und Vater weiterhin ein, worauf das Kind, das ja kein Kind mehr ist, das Verhalten als übergriffig empfindet. Und die Eltern denken: „Aber ich meine es doch nur gut!“ Und dann „helfen“ sie weiter. Aber je mehr sie es versuchen, desto mehr wehrt das Kind ab – und die Eltern empfinden das als Scheitern.

Voran geht es nur in kleinen Schritten

„Sie versuchen, mit alten Werkzeugen an neue Probleme heranzugehen“, erklärt Ketteler. Wie jemand, der sich mit seinem Auto im Sand festgefahren hat und Gas gibt. Aber das, was auf der geraden Strecke hilft, bringt einen hier nicht weiter. Man kann rückwärtsfahren, andere Menschen um Hilfe bitten, eine Matte unter die Räder legen. Vieles kann helfen, wenn man festgefahren ist. Nur die bisherige Lösung nicht: Gas geben.

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„Die Menschen sind in diesen Krisensituationen oft völlig erschöpft, hoffnungslos und verzweifelt“, so Ketteler. „Im Gegensatz zur traumatischen Krise hat sich diese Krise über einen langen Zeitraum langsam aufgebaut.“

Sie sehen einen riesigen Berg an Problemen vor sich. „Und je größer der Berg ist, umso gewaltiger muss aus ihrer Sicht das Instrument sein, um die Probleme zu lösen.“ Eine Krise überwinde man aber in kleinen und kleinsten Schritten.

Der erste: innehalten. Man sollte sich diese schwierige, leidvolle Zeit zugestehen und nicht sofort nach einer Lösung suchen, so der Therapeut. Nach dem Motto: „Ich weiß nicht, wie es weitergeht, ich muss aber im Moment auch keine Lösung finden.“ In unserer Gesellschaft der Selbstoptimierung würde das als Scheitern wahrgenommen, aber: „Krisensituationen sind immer Übergangssituationen. Es ist klar, dass das Alte nicht mehr funktioniert, aber das Neue ist noch nicht da.“

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Ein anderes Beispiel: Eine Mitarbeiterin, die über Monate oder Jahre gemobbt wird, versucht, freundlich zu sein, den Kollegen entgegenzukommen und keine Angriffsfläche zu bieten. „Je mehr diese Kollegin die Beine stillhält, desto mehr wird sie getriezt.“ Dann greift sie abends vielleicht zu einer Flasche Wein, um sich zu beruhigen, und fängt an zu verallgemeinern: „Ich kann doch nichts.“ Oder: „Die Welt ist schlecht.“ Irgendwann entwickelt sie möglicherweise ein Suchtproblem.

Wie kann es gelingen, sich vor Krisen zu schützen? „Ich weiß gar nicht, ob man sich letztendlich davor wappnen kann“, sagt Ketteler. Er findet es besser, die Krisen im Leben zu gestalten, anstatt zu versuchen, sie zu unterdrücken oder auf alle Fälle zu vermeiden. Man könne schließlich zig Ratgeber lesen, wie zum Beispiel eine gute Ablösung vom Elternhaus gelingt – und dann ist es das Kind, das gar nicht ausziehen und erwachsen werden möchte.

„Jeder Mensch muss für seine Herausforderung seine Lösung finden“, so Ketteler. „Es geht darum, sich zu erlauben, das Leben und die schwierigen Zeiten anzunehmen.“ Denn ein Leben mit Krisen sei der Normalzustand. „Menschen brauchen für ihre Entwicklung auch schwierige Zeiten“, betont der Experte. So könnten sie besser die nächsten Herausforderungen meistern. „Sie gehen dann Wege, die sie vorher nicht gehen konnten. Sie machen etwas Neues.“

Das Krisenzentrum hilft seit 42 Jahren erwachsenen Dortmundern bei akuten Krisen (0231/435077; krisenzentrum-dortmund.de). Beratungsstellen in anderen Städten: dajeb.de/beratungsfuehrer-online