Duisburg. . Die Psychologin Anja Gerlmaier ist vor sechs Jahren erblindet. Wie sie sich nun zurechtfindet. Und wer aus ihrer Sicht die wahren Blinden sind.
Der Taxifahrer weiß nicht weiter: Wie soll er die Baustelle vor ihm umfahren? „Biegen Sie rechts ab, fahren Sie nach 500 Metern am Supermarkt links...“, sagt der Fahrgast. Und der Taxifahrer stutzt, denn die Frau, die sich so gut auskennt, kann nichts sehen.
„Ich habe ganz viele Landkarten im Kopf“, erklärt Anja Gerlmaier, die seit sechs Jahren blind ist. Die 47-Jährige hatte vor zehn Jahren einen Autounfall. Das Schmerzmittel, das sie in der Klinik bekam, führte zu einem Sauerstoffmangel im Auge. Ein schleichender Prozess begann, der ihr schließlich das Augenlicht gänzlich nahm.
„Ich kann heute nicht sagen: ,Ich gehe mal eben zur Apotheke.’ Ich muss den Weg vier, fünf, sechs Mal ablaufen: Wo ist eine Straßenlaterne? Wo ist eine Absenkung am Bordstein?“, erklärt die Psychologin vom „Institut Arbeit und Qualifikation“ an der Uni Duisburg-Essen. Sie kann sich orientieren, wenn sie den Weg kennt. Anders sieht es bei fremden Strecken aus, da benötigt sie einen Sehenden, der sie führt.
Anja Gerlmaier erfühlt sich Wege – ein Windzug zeigt ihr eine Häuserflucht. Auch gibt ihr die Nase Hinweise: Da stehen die stinkenden Mülltonnen, dort riecht es nach der U-Bahn-Station. Und das Gehör hilft ihr, Entfernungen abzuschätzen. „Meine Kinder spielen Handball. Ich kann ihnen Bälle zupassen, wenn sie einmal ,Pieps’ sagen.“ Es gibt Blinde, die sich mit schnalzenden Klick-Geräuschen am Schall orientieren, der von einer Mauer zurückgeworfen wird. „Ich kenne blinde Kinder, die so Fahrrad fahren. Das kann ich nicht.“
Berufstätige Mutter von zwei Kindern
Auch hat sie sich gegen einen Blindenhund entschieden. Schließlich muss der mal raus, er braucht Pflege. Dafür hat die berufstätige Mutter von zwei Kindern keine Zeit. So pendelt sie mit dem Langstock über den Boden, um Stolperfallen auszumachen. Ein Mobilitätstrainer hat ihr Tricks gezeigt: Sie schlägt beim Hinaufsteigen der Treppen mit dem Stock gegen die Stufen. „Wenn ich keinen Widerstand habe, dann weiß ich, dass die Treppe vorbei ist.“
Auch kann sie sich mit dem Stock am Bordsteinrand orientieren. Ein Problem sind die Absenkungen für Rollstuhlfahrer. Wenn sie den Übergang auf die Straße nicht spürt, wird es gefährlich. Mittlerweile gibt es ein Leitsystem: Streifen, die sie mit dem Stock erspürt, zeigen: Hier geht es lang. Noppen heißen: Stehen bleiben! Leider gibt es die Noppen nicht überall. Auch haben nicht alle Ampeln eine Vibrations- oder Signalanzeige, die vermitteln, wann es grün ist. Also ist sie über helfende Hinweise dankbar: „Es ist grün!“ Nur bitte nicht ungefragt anfassen und über die Straße führen. Das sei nicht nur übergriffig, es lasse sie auch schnell stolpern. Das größte Hindernis seien jedoch Menschen, die aufs Smartphone starren und sie nicht sehen. Anja Gerlmaier lacht: „Das sind die wahren Blinden.“