Essen/Oberhausen. . Viele Menschen zwischen sechs und 16 weisen erschreckend wenig Gemeinschaftssinn auf. Eine Studie zeigt, wo vor allem Jungen Aufholbedarf haben.
Neulich vor der Gesamtschule Osterfeld in Oberhausen: Ein etwa elfjähriger Junge überquert wie gehetzt die Straße, von der anderen Seite schreit ihm ein anderer hinterher: „Du Hu…sohn“, jedenfalls einen Ausdruck, den man in diesem Alter noch nicht kennen sollte. Der Beschimpfte ballt die Faust, man sieht: Er würde jetzt gern auf den anderen losgehen. Dann überlegt er es sich und geht wortlos des Weges… Das ist noch einmal gut gegangen.
Szenen wie diese ereignen sich täglich zigtausendfach an deutschen Schulen. Nicht immer gehen sie so glimpflich ab. Und wenn man nicht wüsste, dass Schulhof-Raufereien auch früher schon zum brutalen Alltag von Kindern gehört haben, dann könnte man denken, die Jugendlichen von heute wären besonders rücksichtslos.
Große Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen
Diese Ansicht untermauert auch die Studie „Generation ,Rücksichtslos’?“ der Universität Bielefeld. In Köln, Berlin und Leipzig wurden 1000 Jugendliche persönlich befragt. Die Ergebnisse klingen alarmierend: Ein Drittel der Jugendlichen (33 Prozent) weist einen bedenklichen Mangel an Gemeinschaftssinn auf. Und schon bei den Kindern fehlt immerhin einem Fünftel (22 Prozent) der Sinn für das menschliche Miteinander.
Hier offenbaren sich allerdings große Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen: Bei männlichen Jugendlichen weisen etwa doppelt so viele Defizite im Gemeinschaftssinn auf, 44 Prozent von ihnen haben klare Mängel.
„Wir gingen zwar davon aus, dass sich gewisse Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen zeigen. Aber dass die Unterschiede so stark und so durchgängig sind, hat selbst mich überrascht“, sagt Holger Ziegler, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld und Leiter der Studie.
Eltern können kaum zu mehr Empathie erziehen
In den untersuchten Bereichen von Empathie, Solidarität, Gleichgültigkeit und Abwertung legten Mädchen durchweg positiveres Sozialverhalten an den Tag.
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Am augenfälligsten traten die Differenzen zwischen den Geschlechtern zutage, wenn man den Jugendlichen Fragen stellte, die den Bereich der Empathie angingen, also etwa: „Wenn ich ein Mädchen/einen Jungen weinen sehe, ist mir auch nach Weinen zumute“ oder „Es nimmt mich mit, wenn ich sehe, dass ein Mädchen/ein Junge verletzt wird“. Während hier lediglich ein Viertel der männlichen Jugendlichen starkes Mitgefühl bekundete, waren es bei den weiblichen Teilnehmerinnen der Studie immerhin zwei Drittel, die Anteil an der Situation und am Schicksal ihrer Mitmenschen zeigten.
Hat hier ganz schlicht die Erziehung versagt? Nicht unbedingt. Denn der Einfluss der Eltern wirkt sich auf die positiv besetzten Eigenschaften Empathie und Solidarität nur sehr gering aus. Sprich: Wenn ein Kind wenig Mitgefühl und Gemeinsinn für seine Mitmenschen zeigt, können die Eltern hier nur einen vergleichsweise geringen Einfluss auf ihre Kinder ausüben.
Abwertung wird oft von den Eltern übernommen
Anders verhält es sich etwa beim Thema „Abwertung“, also bei Vorurteilen gegenüber sozial Schwächeren, Homosexuellen oder Ausländern. Hier spielt auch der sozioökonomische Status eine Rolle. Ziegler: „Wenn man selber nicht sonderlich erfolgreich ist, dann ist die Tendenz relativ groß, schwächere, kulturell unterschiedliche Menschen abzuwerten. Und dieses Muster zeigt sich dann auch bei jungen Menschen, nicht nur bei den vielzitierten ,weißen, alten Männern‘. Allerdings ist dies auch unabhängig von den einzelnen Erfahrungen, die sie gemacht haben.“ Das Gefühl, dass man zu viel Rücksicht auf Schwächere, Minderheiten oder Abweichler nimmt, bzw. dass diese Menschen sich ungerechtfertigt zu viele Privilegien holen, ist hier weit verbreitet.
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Auch der untersuchte Aspekt der Gleichgültigkeit zeigte sich abhängig davon, wie Jugendliche und ihre Familien finanziell und gesellschaftlich aufgestellt waren. Gefragt wurde: „Schülerinnen und Schüler, die von anderen gehänselt werden, sind meistens selber schuld“ oder es wurde unterstellt, dass schlechte Schüler sich in der Schule zu wenig anstrengen oder dass sie einfach zu dumm sind. Wer selbst einen niedrigeren Sozialstatus hat, stimmt solchen Aussagen eher zu (33 Prozent). Bei denen, die besser dastehen, waren es zum Vergleich nur 16 Prozent.
Kein Widerspruch zur Generation „Fridays For Future“
Widersprechen all diese negativen Befunde dem Bild einer „Fridays For Future“-Generation, wie sie im Moment auf die Straße drängt, sich besorgt um die Umwelt und das Wohlergehen der künftigen Generationen zeigt? „Man kann es auch positiv sehen und sagen: Die Mehrheit der jungen Menschen ist immer noch gemeinsinnig, solidarisch, nimmt das Leiden von anderen wahr und ist auch durchaus bereit, anderen zu helfen. Das ist die gute Nachricht. Die weniger gute Nachricht ist: Ungefähr ein Fünftel bis ein Viertel gehört zu denen, wo das weniger der Fall ist.“
Worin sie sich übrigens nicht unbedingt von den Erwachsenen unterscheiden. Um einen Trend in der gesellschaftlichen Entwicklung auszumachen, fehlen derzeit noch die Vergleichsreihen. Hier würde Ziegler gerne über einen längeren Zeitraum eine Untersuchung machen, nicht nur eine Momentaufnahme wie bei der aktuellen Studie.
Was kann man tun, damit der Gemeinschaftssinn in der Gesellschaft wächst? „Ich glaube, dass das mit Fragen von demokratischer Bildung zusammenhängt“, sagt Ziegler. Wenn man in den entsprechenden Institutionen wie Schulen und Universitäten also genügend daran arbeite, könnte man Solidarität und Gemeinsinn aufrechterhalten. Auch im Moment sieht er den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft noch nicht gefährdet. Aber er warnt vor negativen Entwicklungen: „Man kann insbesondere in einigen Nachbarländern sehen, dass das durchaus kippen kann.“
>>>Reizthema Mobbing
Die Untersuchungen sind methodisch unterschiedlich, aber sowohl die Bielefelder Studie „Generation ,Rücksichtslos’?“ als auch die Anfang vergangener Woche vorgestellte Bertelsmannstudie (wir haben berichtet) kommen beim Thema „Mobbing“ zu ähnlichen Ergebnissen: Es ist an unseren Schulen sehr weit verbreitet.
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So stellten die Bielefelder Forscher fest, dass gut ein Viertel (26 Prozent) der Schüler überdurchschnittlich von Mobbingerfahrungen betroffen sind, hinzu kommen 47 Prozent, die durchschnittlich unter dem unsozialen Verhalten ihrer Mitschüler, unter Ausgrenzung, Beschimpfung oder Schlimmerem leiden mussten. In der Summe sind das 73 Prozent und damit etwas mehr als beim Ergebnis der Bertelsmannstudie. Die wiederum stellte fest, das 65 Prozent der Schüler solche negativen Erfahrungen machen mussten. Es sind also rund zwei Drittel der Schüler, die zu Opfern von Mobbing werden.
Bei den häufigen Opfern kein Geschlechter-Unterschied
Was Geschlechterunterschiede angeht, stellt die Bielefelder Studie fest: In der Gruppe der häufig gemobbten liegen Jungen und Mädchen gleichauf, jeweils 24 Prozent der Sechs- bis Elfjährigen werden häufig gemobbt. Bei denen, die gelegentlich ausgegrenzt werden, gibt es etwas mehr Jungen (36 Prozent – im Vergleich zu 28 Prozent der Mädchen).
Bei den Tätern wiederum liegen die Jungen vorn: 21 Prozent der Mädchen gaben an, gelegentlich bis oft andere Kinder zum Spaß geärgert zu haben. In der männlichen Vergleichsgruppe lag der Anteil bei deutlich höheren 36 Prozent.