Essen. . Das Schimpfen auf die junge Generation ist so alt wie die Menschheit selbst, obwohl die Heranwachsenden von heute ja kaum Anlass zur Klage geben.

Im Bus: Ein Rentner lästert laut, dass die Jugend von heute sich komplett von der Außenwelt abschirmt und deutet auf einen jungen Mann drei Sitze weiter hinten. Der bekommt davon nichts mit, er hat den Blick starr aufs Handy-Display gerichtet und trägt auf den Ohren große Kopfhörer… Auf der Straße: Ein Elektrotechnik-Meister klagt gegenüber einem Kunden über den Lehrlingsmangel. Er erzählt, dass die wenigen Bewerber, die überhaupt zum Vorstellungsgespräch erschienen sind, teils in Flipflops mit Strandkleidung kamen und eine selbstverständliche „Wann geht’s denn hier los mit der Ausbildung, Meister?“-Haltung an den Tag legten, zu allem Überfluss aber all ihre Unterlagen vergessen hatten. Zwei Lehrstellen hätte er zu vergeben, die in diesem Jahr wohl Leerstellen bleiben werden.

Klagen über die Jugend sind so alt wie die Menschheit: Sie lieben den Luxus, haben keine Manieren, keinen Respekt vor den Älteren, widersprechen ihren Eltern, tyrannisieren die Lehrer… Wem das jetzt bekannt vorkommt: Sokrates soll’s geklagt haben, so etwa ums Jahr 400 vor Christus herum.

Wir verhätscheln die Jugend von heute

Aufreger von damals: Hippies 1968 beim „Love-in“ in Kalifornien.
Aufreger von damals: Hippies 1968 beim „Love-in“ in Kalifornien. © dpa Picture-Alliance / UPI

Auch wenn sich immer Einzelbeispiele finden lassen: Wenn man es auf die gesamte Generation bezieht, die heute in Deutschland zwischen 15 und 30 Jahre alt ist, werden sich nur wenige Vorurteile erhärten lassen. „Bei allen seriösen Untersuchungen ist eine solche Klagehaltung die Haupteinstellung der älteren Generation. Das ist überraschend, weil die Beziehung zwischen den Eltern, also der mittleren Generation, und den jungen Erwachsenen außerordentlich gut ist. Eine so gute Beziehung hatten wir noch nie“, sagt der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann (74), der seit 2002 zu den Autoren der „Shell Jugendstudie“ gehört. Das Verhältnis umreißt er so: „Die Eltern sind sehr dicht bei ihren Kindern, sie unterstützen sie gerne. Wenn man Jugendliche fragt: Würdest du deine eigenen Kinder genauso erziehen, wie du selbst erzogen worden bist, dann sagen 75 Prozent ,Ja‘. Die jüngere Generation kriegt die technologischen Entwicklungen direkt mit. Sie weiß, wie man sich in einer unsicher gewordenen Welt bewegt; wie man sich durchlaviert; wie man sich nicht stark festlegt. Das sind aber nur Reaktionen der Jüngeren auf veränderte Lebensbedingungen.“

Auch der Dortmunder Soziologe Ronald Hitzler (68) sieht keinen Grund, in ein Klagelied einzustimmen: „Ich sehe nicht, dass wir gesellschaftlich auf die jungen Leute schimpfen. Im Gegenteil: Wir verhätscheln sie.“ Gründe für diese Verhätschelung lassen sich viele finden: Es gibt wenig Nachwuchs, zum großen Teil Einzelkinder; durch Terrorgefahr und unstete Arbeitsverhältnisse herrscht subjektiv empfunden eine große Unsicherheit, vor der Eltern ihre Kinder abschirmen möchten; ein hohes Wohlstandniveau, das es den Eltern erlaubt, sich genug um die Kinder zu kümmern.

„Die 68er sind ein Mythos.“

Wenn man mal so etwas wie die Klage über die jungen Leute mit Handy und Kopfhörern höre, sei das ganz normal. „Das war früher nicht anders, da hatten die Leute ihre Zeitung, hinter der sie sich versteckt haben. Später der Walkman. Da geht es darum, Privaträume in der Öffentlichkeit zu schaffen. Es war aber nie so, dass man sich früher freudig im Zug oder der U-Bahn getroffen und ein fröhliches Schwätzchen begonnen hätte“, so Hitzler.

Längst gebe es auch nicht mehr das Konfliktpotenzial, das noch bei den 68ern für reichlich Reibung gesorgt hat. Das liegt in diesem Jahr ja auch schon 50 Jahre zurück. Und: „Die 68er sind ein Mythos. Von den Zahlen war das ein sehr kleiner Teil der damals 18- bis 28-Jährigen. Aber es gab eine Zeitgeistprägung. Das war nun in der Tat für die älteren Leute eine massive Herausforderung“, so Hitzler. Frisuren, Kleidung, Musik, Erneuerung der Politik, Befreiung der Sexualität, freier Umgang mit Drogen. Das musste erstmal verkraftet werden.

Von der „Null Bock“-Generation der 80er-Jahre mal ganz zu schweigen...

Heute hingegen herrscht auch nicht überall eitel Sonnenschein, doch Hitzler meint: „Die Sicht der Älteren auf die Jüngeren ist kulturell gesehen noch nie so tolerant gewesen und unterstützend. Es geht also nicht mehr um die Frage: Was ist das für ein grauenhaftes Volk?“ Eine Ausnahme gebe es. Hitzler: „Wenn sie mit Lehrern und Hochschullehrern zu tun haben, sagen die: ,Was für einen Mist kriegen wir neuerdings an die Gymnasien und Hochschulen? Die können ja kein Deutsch mehr!’ Die Frage ist: Brauchen sie dieses Deutsch?“

20 Prozent der Jugendlichen haben Schwierigkeiten

Auch Aristoteles schimpfte auf die Jugend - und wurde von den Älteren anfangs selbst kritisch beäugt...
Auch Aristoteles schimpfte auf die Jugend - und wurde von den Älteren anfangs selbst kritisch beäugt... © Marcello Mazza

Hurrelmann sieht auch dort ein gewisses Konfliktpotenzial, wo der Kontakt der Generationen zueinander verloren gegangen ist: „So kommt es immer wieder zu einer Spannung: Auf der einen Seite die ältere Generation und die mittlere Generation ohne Kinder, auf der anderen Seite die jüngste Generation, die viele Dinge einfach nicht so macht, wie man es als Älterer selbst gemacht hat. Darin spiegelt sich unterschwellig das Eingeständnis, dass die Welt sich geändert hat. Heute läuft alles übers Internet, nur noch digital. Und eine Verabredung findet noch nicht einmal mehr am Telefon statt, sondern über Whats­App – und bis es so weit ist, dauert es ewig.“

Ansonsten betrachtet der einst in Bielefeld lehrende Jugendforscher Hurrelmann die Generation entschieden positiv: „Die große Mehrheit der heutigen jungen Generation, also 80 Prozent, ist so offen, konstruktiv eingestellt und hat auch durchschnittlich so gute Leistungen, dass man damit wirklich überall zufrieden sein kann. Die restlichen 20 Prozent haben Schwierigkeiten – und auf die richtet sich die Kritik.“

Die Mehrheit der jüngeren Menschen ist gut in Schuss

Die Knappheit beim Nachwuchs führt laut Hurrelmann dazu, dass heute in Ausbildungsberufen auch jene 20-Prozent-Kandidaten zum Bewerbungsgespräch eingeladen werden, die aufgrund ihrer Noten und Kompetenzen vor fünf Jahren gleich ausgesiebt worden wären. Junge Menschen mit besseren Qualifikationen streben heute eher an die Hochschulen. Jene mit geringen Qualifikationen gerade in Bezug auf Sprache, Rechtschreibung und Mathe, bewerben sich auf Stellen, für die sie vor Jahren nicht in Frage gekommen wären.

Dennoch stellt Hurrelmann fest: „Die große Mehrheit der jüngeren Menschen ist richtig gut in Schuss.“ Kein Grund also zur Klage.

  • Ronald Hitzler leitete bis 2017 das Institut für Allgemeine Soziologie an der TU Dortmund und untersuchte dabei unter anderem Jugendszenen.
  • Klaus Hurrelmann lehrte als Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswissenschaftler lange an den Unis in Essen und Bielefeld und arbeitet mit an den „Shell Jugendstudien“.