Essen. . Laut einer Bertelsmann-Studie fühlen sich viele Kinder nicht sicher in ihren Schulen. Lehrerverbände fordern nun mehr Zeit für Gewaltprävention.

Fast nach jeder Pause hat Grundschullehrerin Luisa P. (Name ist der Redaktion bekannt) einen Vorfall, über den sie mit ihren Schülern sprechen muss. Mal geht es nur darum, dass einem Schüler die Zunge rausgestreckt wurde. Häufig aber auch um schlimme Beschimpfungen oder gar Schlägereien. Dass 30 Prozent der Grundschüler in Deutschland gehänselt, ausgegrenzt und „absichtlich gehauen“ werden, wie jetzt eine repräsentative Studie im Auftrag Bertelsmann-Stiftung herausfand, erlebt sie täglich in ihrer Schule im Essener Norden.

„Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, Regeln und Rituale einzuführen und den friedlichen Umgang miteinander zu fördern“, erzählt die Lehrerin. Zwar sei das sehr standortabhängig, glaubt sie, weil man vielen Kindern aus ihrem Stadtteil erst einmal grundlegende Regeln des Zusammenlebens vermitteln müsse. „Aber dafür kommen die Schüler bei uns sehr gerne zur Schule, sie fühlen sich wohl, sehen in uns Bezugspersonen.“

Die Hälfte der Grundschüler fühlt sich sicher

Auch das unterstreicht die Bertelsmann-Studie, bei der bundesweit 3448 Schüler zwischen 8 und 14 Jahren befragt wurden. Zwar machen Grundschüler demnach häufig ausgrenzende Erfahrungen in ihrem Schulalltag. Aber gleichzeitig sagen 52 Prozent der Grundschüler, dass sie sich sicher in ihrer Schule fühlen – ein größerer Anteil als bei anderen Schulformen. Beispielsweise können hier nur 30,8 Prozent der Gesamtschüler zustimmen.

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Auch mit Blick auf Übergriffe zeigt sich bei den weiterführenden Schulen ein differenziertes Bild: An Haupt-, Real-, Gesamt- und Sekundarschulen sagte jeder Fünfte, er sei im vergangenen Monat gehauen, ausgegrenzt und gehänselt worden. Im Gymnasium war es nur jeder Zehnte.

Bertelsmann: Ergebnisse sehr ernst nehmen

Für Studienautorin Antje Funcke ist es wichtig, nun nicht darüber zu diskutieren, ob Raufereien auch schon früher normal an Schulen gewesen sind. „Man sollte die Ergebnisse auf gar keinen Fall bagatellisieren und genau hinschauen, was heute an den Schulen passiert“, sagte Funcke unserer Zeitung. „Die Ergebnisse muss man sehr ernst nehmen.“ Schließlich würden genau das viele Schüler bei den Erwachsenen vermissen.

Das belegt auch die Studie: Je älter die Kinder werden, desto weniger haben sie das Gefühl, dass ihre Lehrer ihnen zuhören oder sie ernst nehmen. Bei den Achtjährigen stimmen 79 Prozent zu, bei den Vierzehnjährigen nur noch 57 Prozent. Ihren Eltern und Freunden stellen die Jugendlichen aber ein gutes Zeugnis aus – sie hören ihnen in den allermeisten Fällen zu.

Schulleiterin in Dinslaken: Ton ist rauer geworden

„Ich würde bestätigen, dass die Bereitschaft gestiegen ist, schneller zuzuschlagen“, beobachtet auch Andrea Köppen, die seit 1992 im Schulbetrieb tätig ist. Seitdem habe insbesondere die Intensität der Verbalattacken zugenommen, vor allem in den vergangenen fünf Jahren.

Das führt die Dinslakener Schulleiterin unter anderem auf den „Wortschatz im Umfeld“ der Kinder zurück. „Sie imitieren Floskeln.“ Der Ton in der Gesellschaft sei – auch aufgrund der sozialen Medien – rauer geworden. „Ich finde, dass wir als Gesellschaft verrohen. Wir haben kein gutes Konfliktverhalten.“ Das würden Kinder nachahmen.

Mehr soziales Miteinander im Lehrplan

Sind es also die Lehrer, die etwas ändern müssen? „Wir appellieren nicht an die Lehrer, sondern an die Politik, die neue Rahmenbedingungen setzten muss“, sagte Antje Funcke. So sollte es auch an den weiterführenden Schulen mehr Zeit für das soziale Miteinander geben und Regeln fest im Lehrplan verankert werden.

Ähnlich äußerte sich der Verband Bildung und Erziehung. „Schule muss in die Lage versetzt werden, den steigenden Anforderungen in puncto Erziehungsauftrag nachkommen zu können“, teilte der Bundesvorsitzende Udo Beckmann mit. „Erziehungsaufgaben müssen mehr Platz finden im engen Korsett der Leistungsorientierung. Schulen brauchen dafür die Unterstützung anderer Professionen und vor allem Zeit und nochmals Zeit.“ In NRW forderte der VBE, das Lehrpersonal erheblich aufzustocken, um die Vermittlung von Werten in der Schule zu ermöglichen.

Kinderschutzbund: Mehr Bewegung nötig

Nicole Vergin, Pressesprecherin des Kinderschutzbundes in NRW, sieht zwei Punkte, bei denen in Schulen angesetzt werden müsse. „Kinderrechte müssen in der Schule viel mehr thematisiert werden“, sagt Vergin. Sie seien vor 30 Jahren verabschiedet worden, aber noch immer nicht ausreichend im Schulleben verankert worden. Auch das zeigt die Studie: An Gymnasien haben demnach nur 47 Prozent der Jugendlichen kein oder nur wenig Wissen über ihre Rechte, an Grundschulen 63 Prozent der Kinder.

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„Wenn Kinder lernen, dass Gewalt und Mobbing ihnen gegenüber nicht erlaubt sind, überlegen sie sich auch, ob sie gegenüber ihren Mitschülern gewalttätig oder ausfallend werden“, so die Sprecherin. Ergänzend dazu müsse mehr Wert auf Bewegung gelegt werden. „Unruhe und Aggressivität entstehen oft auch durch mangelnde Bewegung an den Schulen“, so Vergin.

Jugendliche aus NRW kommentieren die Studie

Neben der eigentlichen Studie hat Bertelsmann eine Gruppe von 17 Jugendlichen aus NRW gefragt, die Studie zu begleiten und ihre Meinung zu äußern. In der Broschüre „Fragt uns“ äußern sich diese Jugendlichen im Alter von 15 bis 21 Jahren zu den Ergebnissen. Auch nach Meinung der Jugendlichen werde der Umgang mit Konflikten in der Schule zu wenig thematisiert. „Das Problem wird outgesourct“, finden sie.

Gut finden die jungen Experten, dass viele Kinder und Jugendliche der Ansicht sind, dass sich jemand um sie kümmere. Andererseits sei es bedenklich, dass zehn Prozent der Befragten sich vernachlässigt fühlen. „Ist es in den Augen der Befragten die normale Entwicklung in der Pubertät oder sehen Lehrer an weiterführenden Schulen es oft nicht mehr als ihren Auftrag an, als Ansprechpartner da zu sein?“, fragen die Jugendlichen. Amir Sallachi vom „Fragt uns“-Team fordert: „Wir brauchen Kommunikation auf Augenhöhe statt von oben herab.“