Ruhrgebiet. Botanische Gärten helfen, die Natur zu verstehen. Und Antworten auf Fragen der Zukunft zu geben. Ein Streifzug durch unsere Region.
Sie stinkt. Und eine Schönheit ist sie auch nicht gerade. Jedes Gänseblümchen zeigt mehr Eleganz. Dafür ist sie groß. Riesengroß. Die größte Blume der Welt. Und während Gänseblümchen auf Wiesen mannigfach gedeihen, blüht die Titanenwurz nur für ganz kurze Zeit – etwa im vergangenen Sommer in Dortmund.
Solche Exoten, wie die Pflanze von der Insel Sumatra, die einen Blütenstand von zwei Metern und höher erreichen kann, sind hierzulande nur selten zu bewundern – stets in wenigen der rund 90 Botanischen Gärten in Deutschland. Neben der Schau der fremden Pflanzen sind diese Parks Orte der Erholung. Doch braucht man sie überhaupt noch für die Forschung, für die Lehre? In Saarbrücken hat man vor drei Jahren den Botanischen Garten geschlossen. Der sei nicht mehr nötig. Wissenschaftler, so eine Begründung, bräuchten heute nicht auf dem Feld zu arbeiten, dafür gebe es Labore. Doch ein Streifzug durch die Botanischen Gärten in unserer Region zeigt: Sie gestalten unsere Zukunft mehr mit, als es ein Titanenwurz-Schauspiel vermuten lässt.
Botaniker müssen an lebendigen Pflanzen forschen
„Vieles kann man im Labor machen, aber nicht alles“, sagt Thomas Stützel. Der Direktor des Botanischen Gartens der Ruhr-Uni Bochum nennt ein Beispiel: Um die Genetik eines Neandertalers zu erforschen, reiche es aus, wenn man einen Fingerknochen findet. „In der Botanik geht das nicht“, so der 64-Jährige. „Wir brauchen lebendes Material.“ Um zu erforschen, wie Arten entstehen, wie sie zusammenhängen. Oder auch: Warum Erdnüsse ihre Blütenstängel in die Erde stecken. Sein Kollege, der Wissenschaftliche Leiter Wolfgang Stuppy (53), ergänzt: „Der Botanische Garten ist eine lebende Genbank, es sind viele seltene Arten dabei.“
Es gehe darum, Grundkenntnisse zu schaffen, betont Patrick Knopf (45) aus Dortmund: „Was nützt Ihnen der beste Pharmazeut der Welt, wenn er nicht die Pflanzen kennt, sie nicht unterscheiden kann, nicht weiß, welche Inhaltsstoffe sie haben.“
Der Naturwissenschaftler nennt als Beispiel seine Forschungsarbeit: Die Eibe enthält den Inhaltsstoff Taxol, der zur Herstellung von Krebsmedikamenten genutzt wird. Das Problem: Das Taxol hat viele Nebenwirkungen. Andere Nadelgehölze, die mit der Eibe verwandt sind, etwa die Steineiben, könnten genauso effektiv in der Behandlung sein, aber weniger Vergiftungserscheinungen zeigen, so die Hoffnung. Doch es gibt Hunderte von Steineibenarten auf dieser Welt – wie soll man da die richtige bestimmen?
Ein Bruchstück vom Blatt reicht, um die Steineibe zu identifizieren
„Wir haben es geschafft, die Pflanze über die Blattanatomie zu identifizieren. Selbst ein kleines Bruchstück lässt sich nun eindeutig zuordnen“, so der Leiter des Botanischen Gartens in Dortmund. Auf dieser Basis werde nun geforscht, ob der Inhaltsstoff der Steineiben Krebspatienten helfen kann. „Das ist nur ein Minibeispiel von Tausenden Forschungsprojekten der Botanischen Gärten.“
Im Gegensatz zum Bochumer Garten, den auch angehende Vegetationsgeografen nutzen, ist der in Dortmund nicht an eine Uni angeschlossen. Es gibt aber Kooperationen mit Hochschulen. Sein eigentlicher Auftrag ist die Bildung von Kindern und Erwachsenen.
Nachhilfe im Fach „Natur“
Dass viele im Fach „Natur“ eine Auffrischung benötigen, zeigt ein Besuch im Botanischen Garten der Uni Duisburg-Essen. „Der normale Student kommt nicht mehr ins Moor, wir müssen das Moor zu ihm bringen“, sagt Hardy Pfanz in der Anlage neben dem Essener Grugapark. Mit einem Grashalm kitzelt er Härchen einer Venusfliegenfalle, die sogleich – im Glauben, Beute gemacht zu haben –, ihr Blätter-Gefängnis schließt.
Der Professor für Angewandte Botanik und Vulkanbiologie unterrichtet angehende Biologen, viele von ihnen werden mal Lehrer. Im Botanischen Garten kann er ihnen nicht nur das Hochmoor zeigen, sondern auch den Unterschied zwischen verschiedenen Pflanzenarten: Die dicken Blätter vieler „Sukkulenten“, die damit in Wüsten das Wasser speichern. Oder die weißen Haare des „Greisenhaupts“, mit denen diese Kakteenart tagsüber das Licht reflektiert. „Nachts sind sie dann ein Temperaturschutz – wie ein Pulli.“
Dabei stehen nicht nur die Exoten in den warmen Gewächshäusern, sondern auch heimische Pflanzen auf dem Stundenplan. „30 Prozent aller Studenten waren noch nie in einem richtigen Wald“, schätzt Pfanz, um den Bildungsbedarf zu veranschaulichen. Daher stehen im Bereich „Bauerngarten“ auch Kartoffelpflanzen und hochwachsender Spargel, der nie gestochen wurde.
Kein Buch, kein Foto, keine digitale Datenbank könne den Botanischen Garten ersetzen: „Hier dürfen Sie anfassen, Sie dürfen begreifen, ein Blatt umdrehen, die Farbe angucken“, sagt Pfanz und schnuppert an einem Minzblatt. Wie das duftet!
Im Garten wachsen zudem Pflanzen für Bestimmungskurse. „Als ich studiert habe, hat man auf Wiesen die Pflanzen gesammelt“, sagt der 63-Jährige. Aber wo gibt es heute noch intakte Wiesen? Das bisschen echte Natur reiche nicht aus, um jede Woche 280 Studierende mit bis zu 1120 Pflanzen zu versorgen.
Pfanz hofft, dass die Studierenden durch den direkten Kontakt mit den Pflanzen nicht nur gute Lehrer werden, sondern auch verstehen, wie wichtig der Erhalt der Natur ist. Schließlich war ein Tisch, ein Kohlestück, ein aus Erdöl geschaffener Kunststoff mal eine Pflanze. „Alles, was Sie essen, war mal eine Pflanze – auch wenn Sie das Schwein dazwischenschalten.“
Der Wilde Sellerie, die Urform des bekannten Knollen-Selleries, ist zum Beispiel gefährdet. Dabei könnte sein genetisches Material künftig für die Ernährung noch wichtig sein. Andere Pflanzen gibt es bereits heute nur noch in Botanischen Gärten. Wolfgang Stuppy aus Bochum zeigt auf ein Gewächs, das Früchte hat, die an Bohnen erinnern: „Toromiro“ von der Osterinsel. „Die gibt es dort, wo sie herkommt, nicht mehr.“
Aus einer Feuchtwiese wird bei der Hitze fast ein Halbtrockenrasen
So wird ein Botanischer Garten zur Arche Noah der Pflanzen. Allerdings ist auch dort der Klimawandel spürbar. „Eine Feuchtwiese wird wie beim letzten Sommer auf einmal fast ein Halbtrockenrasen“, sagt Patrick Knopf aus Dortmund. „Was bedeutet das für die Zukunft? Da sind wir dran, an den aktuellen Umweltproblemen.“ Dabei sollte man sich vom Grün, das man auf dem Land sieht, nicht täuschen lassen, so Knopf. Denn der Artenreichtum verkümmere oft zum „Einheitsgrün“.
Stuppy aus Bochum: „Wenn man die Vielfalt der Pflanzen retten will, werden Botanische Gärten immer wichtiger. Was jetzt ausstirbt, ist für immer weg.“ Botanische Gärten bringen mittlerweile bedrohte Pflanzenarten auch wieder zurück ins Freiland. Knopf: „Sonst ist das irgendwann so wie bei einem letzten Rhinozeros irgendeiner Art in einem Zoo.“
Ungewöhnliche Forschung: Ein Brasilianer forscht an brasilianischen Pflanzen – in Bochum. Klingt verrückt. Aber es gibt gute Gründe dafür, so Garten-Direktor Thomas Stützel. Würde der Stipendiat die Pflanzen in der Heimat erkunden, müsste er zunächst 1400 km weit fahren. Zurück an der Uni wäre „Eriocaulaceae“ nicht mehr zu gebrauchen. In Bochum liegt jedoch das Gewächshaus neben dem Labor.
Spannende Sammlungen: In Essen gibt es Aeonien. Das sind Pflanzen mit sehr dicken Blättern, die von den Kanarischen Inseln stammen. 80 Prozent aller Arten werden im Gewächshaus gepflegt und gezüchtet. „Man darf sie aus Naturschutzgründen heute nicht mehr sammeln. Deshalb ist das ein besonderer Schatz“, sagt Hardy Pfanz von der Uni, der eine neue Sammlung plant: zu Vulkanpflanzen.
Besondere Geschichten: Der Botanische Garten ist nicht nur für Biologen interessant: „In der Bibel werden rund 100 Pflanzen erwähnt“, sagt Pfanz und erinnert an Moses’ brennenden Busch. Er zeigt auf ein Gewächs mit rosa Blüten. Das könnte er gewesen sein. Denn die ätherischen Öle des „Diptam“ verdunsten bei starker Sonne, so dass sich Gas über der Pflanze bildet. „Das kann sich selbst entzünden.“
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