Essen. . Was du heute kannst besorgen, schiebe getrost auf morgen. Es tut so gut, einfach mal die Seele baumeln zu lassen. Doch wer kann das heute noch ohne innere Unruhe oder schlechtes Gewissen? Wie wir wieder lernen, innezuhalten.

Wann haben Sie eigentlich zum letzten Mal Zeit verschwendet? Und ich meine nicht die typische Szene in der Aldi-Kassenschlange: „Frau Müller – Stoooorno!“, wo zähflüssige Minuten das Bordelaise-Fischfilet auftauen, bis Frau Müllers Ankunft Erlösung verheißt. Oder das Trauerspiel an der Kreuzung, wenn der Vordermann sich partout nicht zum Abbiegen entschließen kann, weil sich aus weiter Ferne möglicherweise ein anderes Auto nähern könnte. Nein, ich meine: Wann sind Sie ganz bewusst, genüsslich und ohne schlechtes Gewissen gebummelt, geschlendert, haben getrödelt, herumgehangen. Ohne Ziel und Richtung, ohne Sinn und Zweck. Sie erinnern sich nicht daran?

Aber bestimmt erinnern Sie sich noch daran, wie Sie sich vorgenommen haben, sich endlich mal wieder nichts vorzunehmen – reine Freizeit zu genießen.

Das Problem dabei: Wir sind eine Gesellschaft von gehetzten Arbeitstieren, selbst unsere Pausen planen wir minuziös. Da wir in unserem Leben so wenige davon haben, wollen wir sie zumindest optimal nutzen und den bestmöglichen Unterhaltungs- und Erholungswert erzielen. Doch dadurch gerät auch die Freizeit zur Stressfalle.

Ohne Stillstand kein Fortschritt. Bild: Jamiri
Ohne Stillstand kein Fortschritt. Bild: Jamiri © Jamiri / Jan-Michael Richter

Denn wenn wir gerade versuchen, in den Entspannungsmodus zu wechseln, sind da diese kleinen Klebezettel, die Listen am Kühlschrank und das Termin-Piepsen des Handys: Keller aufräumen! Fenster putzen! Auto zum TÜV! Brief ans Finanzamt! Telefonanbieter wechseln!

Und erst die virtuellen Anforderungen: Was machen die Facebook-Freunde? Was passiert auf Twitter? Es muss geliked, re­tweetet und kommentiert werden, Mails sind zu beantworten, und zwar unverzüglich. Lassen Sie mich raten: Sie arbeiten ihre Listen ab – denn es fühlt sich gut an, Aufgaben erledigt zu haben. Doch machen wir uns nichts vor: Der Berg wird nicht kleiner, jede Woche kommt ein neues „To Do“ hinzu, und gleichzeitig erstarkt das ungute Gefühl, etwas Wesentliches, nämlich sich selbst, zwischen Terminen, Aufgaben und durchgeplanter Freizeit irgendwie zu verlieren.

Eine Reihe von Umfragen zeichnet das Bild einer gestressten Gesellschaft: Das Allensbach-Institut hat im vergangenen Jahr berufstätige Eltern befragt. 55 Prozent der Mütter und 49 Prozent der Väter gaben an, in ihrer Freizeit nur noch selten entspannen zu können. Die Hans-Böckler-Stiftung fand heraus, dass es in 84 Prozent aller Betriebe Beschäftigte gibt, die ständig unter hohem Zeit- und Leistungsdruck stehen. Und eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse kam schon 2009 zu dem Ergebnis, dass Stress alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten betrifft: Jeder dritte Befragte klagte über Dauerstress.

Vorsatz fürs neue Jahr: Mehr Zeit für Freunde und Familie 

Auch bei den Vorsätzen fürs neue Jahr liegt in allen Umfragen regelmäßig „Stress vermeiden“ und „mehr Zeit für Freunde und Familie“ ganz weit vorne.

Dauerhafter Stress verursacht allerdings nicht nur ein subjektives Gefühl von Unwohlsein: Er verdoppelt das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, wird häufig von Kopf- und Rückenschmerzen oder Magenbeschwerden begleitet und wirkt sich negativ auf das Gehirn aus: Unser Verhalten wird unflexibler, die Gedächtnisleistung schlechter.

Wir lassen uns so gerne von der Uhr führen, weil sie so schön unseren Tag strukturiert und uns das Gefühl gibt, wir hätten unser Leben im Griff. Foto: Matthias Graben
Wir lassen uns so gerne von der Uhr führen, weil sie so schön unseren Tag strukturiert und uns das Gefühl gibt, wir hätten unser Leben im Griff. Foto: Matthias Graben © WAZ FotoPool

Anhaltender Stress beschleunigt also nicht unsere Arbeits- und Denkkraft, sondern lähmt sie geradezu.

Der Kognitionspsychologe Prof. Oliver Wolf von der Ruhr-Universität Bochum weist in diesem Zusammenhang auch auf die Möglichkeit hin, dass wir durch Stress anfälliger für Ängste werden könnten. Tierstudien hätten gezeigt, dass chronischer Stress zu einer Volumenzunahme des Furchtzentrums im Gehirn führe.

Doch warum lassen wir das zu? Warum wollen wir immer schneller und effektiver werden, und haben ein schlechtes Gewissen, wenn wir einfach mal nichts tun? Warum muss selbst unsere Freizeit irgendeinen objektiv feststellbaren Nutzen haben?

„Weil wir Zeit mit Geld aufrechnen“, bringt es der Zeitforscher Prof. Karlheinz Geißler auf den Punkt. Die Ökonomie dominiere immer mehr Lebensbereiche, sogar Kunst und Kultur.

Zwar hätten wir durch unsere Multifunktionsgeräte faktisch mehr Zeit zur Verfügung, doch wir beanspruchten diesen Zeitgewinn nicht bewusst für uns selbst. „Wir sagen uns ja nicht: Da habe ich mehr Zeit und schaue mal eine halbe Stunde einfach aus dem Fenster.“ Stattdessen würden wir die gewonnene Zeit direkt wieder mit neuen Aufgaben füllen.

Beschaulich Leben ohne Selbstverachtung

Bloß nicht innehalten, bloß keine Zeit vergeuden. Müßiggang ist aller Laster Anfang. Schon 1882 prophezeite der Philosoph Friedrich Nietzsche: „Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (= beschauliches Leben) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe.“

Wie Recht er doch hatte.

Mit dem technischen Fortschritt stieg neben der Fortbewegungsgeschwindigkeit auch unser Kommunikationstempo. Überall sind Informationen verfügbar, und auch der nächste Gesprächspartner ist nur wenige Klicks entfernt. Wir googeln durchs Netz, unsere Aufmerksamkeit springt wie ein Flummi von Überschrift zu verlinktem Text zu verlinktem Video zu anderem Text zu… Ja, was haben wir denn eigentlich noch mal gewollt? Wenig gesucht und Überangebot gefunden. Wir ertrinken im Internet, statt auf seinen Informationswellen zu surfen. Es soll sogar Menschen geben (einer schreibt gerade diese Zeilen), die ihren Laptop und das Smartphone selten bis gar nicht mehr ausschalten. Es könnte ja eine lebenswichtige Mail kommen. (Das ist bisher übrigens noch nicht passiert, womit aber gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit steigt, dass es irgendwann passieren wird, oder?)

In einer Zeit, als das Internet noch nicht in seiner heutigen Form existierte, schrieb Michael Ende die Geschichte von Momo und den „grauen Herren“: Die kahlköpfigen Männer in den grauen Anzügen tauchen plötzlich in einer Kleinstadt auf, rechnen den verdutzten Bewohnern vor, wie viel Zeit sie täglich durch unsinnige Tätigkeiten verplempern und halten sie dazu an, mit den kostbaren Stunden und Minuten besser zu haushalten. Von der eingesparten Zeit ernähren sich die Männer, sie rauchen sie in Zigarrenform. Doch Momo, ein kleines Mädchen, durchkreuzt ihre Pläne und holt die gestohlene und eingefrorene Zeit von den „grauen Herren“ zurück.

Jeder Mensch hat seine Zeit 

„Jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur so lang sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig“, gibt Meister Hora, der Verwalter der menschlichen Lebenszeit, dem Mädchen mit auf den Weg.

Was haben wir von Momo gelernt? Scheinbar nicht viel.

Die Uhr führt bei uns ein hartes Regiment, sie „legt uns an die Zeitkette“, wie Zeitforscher Geißler es ausdrückt. Der Mensch lebe in zwei Zeiten, sagt Geißler weiter: der eigenen Zeitnatur, die rhythmisch und elastisch sei – er nennt sie „lebendige Zeit“ – und der von außen vorgegebenen, streng getakteten Uhrzeit, die er zur „toten Zeit“ degradiert. Wer keine Balance zwischen beiden herstellen könne, verliere am Ende sich selbst, mögliche Konsequenz: Burnout.

Füße hoch. Was soll daran verkehrt sein? Foto: dapd
Füße hoch. Was soll daran verkehrt sein? Foto: dapd © ddp

Sich selbst verlieren. Geht das überhaupt?

Forscher zumindest haben herausgefunden, dass unser Gehirn im Leerlauf-Modus, also wenn es nicht gerade Probleme löst und Aufgaben sortiert, in bestimmten Arealen höchst aktiv ist. Diese Areale überschneiden sich mit denen, die anspringen, wenn wir über uns selbst nachdenken.

Das Gehirn pflege im Leerlauf unser Bewusstsein, schreibt der Wissenschaftsjournalist Ulrich Schnabel in seinem Buch „Muße – Vom Glück des Nichtstuns“ (Pantheon-Verlag). Damit schaffe es die Grundlage für unser Selbstgefühl.

Wer nicht zwischendurch mal abschaltet, schadet also auch seiner geistigen Gesundheit.

Um die Zeit einfach mal zu vergessen, solle man mit kleinen Kindern spielen, empfiehlt der Zeitforscher, denn die hätten noch kein Bewusstsein für den strengen Takt unserer Gesellschaft. Lernen sie jedoch die Uhrzeit, „dann ist die Kindheit vorbei“. In Geißlers Wohnung jedenfalls findet man keine Uhr. „Nur am Herd, da ist ja irgendwie immer eine eingebaut.“ Eigentlich genügt ihm aber die Uhr an der Barockkirche, die er vom Fenster aus sehen kann. „Ein Mobiltelefon habe ich auch nicht“, fügt er noch hinzu.

Damit gehört er jedoch zu einer Minderheit. Die Mehrheit rast.

In Österreich hat sich vor 22 Jahren ein Verein zusammengeschlossen, der genau das nicht will. Wer beitritt, verpflichtet sich „zum Innehalten“. Das tun mittlerweile etwa 700 Mitglieder. Robert Lauritsch, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Verein, erklärt den Zustrom, auch von jüngeren Menschen, vor allem mit der zunehmenden Beschleunigung des Lebens. „Viele fragen sich mittlerweile: ‚Was macht das mit mir?’ und ‚Will ich das?’.“

Ein Netzwerk für alle, die die Zeit intensiver erleben wollen 

Allerdings agiert der Verein nur als Netzwerk von „Zeitinteressierten“ und Vermittler von Kontakten. Wer sich praktische Lebenshilfe wünscht, dem bleibt nur der professionelle Entschleunigungsmarkt, der mitunter seltsame Blüten treibt.

Oder wie es der Wissenschaftsjournalist Schnabel formuliert: „Gewöhnt an eine Konsumgesellschaft, die jedes Bedürfnis durch entsprechende Produkte befriedigt, wird eben oft auch die Muße als konsumierbares Gut betrachtet.“

Kinder kennen noch keine Zeit. Von ihnen können Erwachsene lernen.
Kinder kennen noch keine Zeit. Von ihnen können Erwachsene lernen. © ddp images

Zur Erlangung eines optimalen Muße-Zustands wären demnach zu konsumieren: Ratgeber (zu deren Lektüre man sich vermutlich mit einem weiteren „To Do-Listen-Eintrag“ verpflichten müsste), Seminare (nach dem Motto: Erstmal lernen, wie man nichts tut, bevor man es vielleicht falsch angeht…), oder spezielle Urlaubsreisen, die „Sinn- und Selbstfindung“ im Kloster oder, besser noch, in der Wüste versprechen.

Ironie beiseite. Vom Prinzip her ist die Idee, sich von anderen zur Muße zwingen zu lassen, ja gar nicht verkehrt. Manche Menschen haben sich so in ihren Aufgaben und Plänen verheddert, dass sie jemanden brauchen, der die Leinen kappt.

Jemanden wie Ulrike Zecher. Anders als in vielen Zeitmanagement-Seminaren steht in ihrer „Entschleunigungswerkstatt“ nicht das sture Lernen von Strategien im Vordergrund. Viele ihrer Klienten wünschten sich mehr Zeit, „aber eine Kiste Zeit kann man bei mir leider nicht kaufen“. Es gehe eher darum, den eigenen Rhythmus wiederzufinden, mal „einen Termin mit sich selbst“ zu machen – das beginne schon damit, deutlich langsamer zu sprechen und bewusst zu atmen. „Das ist für viele schon ein großer Schritt.“

Den ganz Eiligen, die immer gehetzt nach Patentrezepten für ihre Probleme suchen, rät Ulrike Zecher: „Erstmal eine Nacht drüber schlafen. Denn es gibt nicht nur eine große Lösung, es gibt immer mindestens drei kleine Lösungen.“

Ohne Muße gibt es keine Kreativität

Beschleunigungsfanatikern hält sie gern eine einfache Formel entgegen: „Ohne Muße gibt es keine Kreativität und ohne Kreativität keine Innovation.“ Ähnlich tickt auch Zeitforscher Geißler: „Die Stunden, die zählen, sind die Stunden, die nicht gezählt werden“, lautet sein Credo. Wir müssten verzichten lernen, der Vielzahl an Möglichkeiten entsagen, denn die besten Einfälle ereilten uns beim Nichtstun. An Bushaltestellen. Beim Spazierengehen. „Die Gestressten kommen nur über Langeweile zur Muße“, sagt er. Durch den Morast der Langeweile waten, bevor man zu den blühenden Gärten der Entspannung findet? Genau so meint es der Zeitforscher: „Wir müssen erst einmal Leere spüren, um uns wieder zu spüren.“

Und jetzt? Jetzt haben Sie ein bisschen was gelernt, sind ein bisschen schlauer geworden, haben sich ein bisschen optimiert.

Quatsch. Das war nicht Sinn der Übung. Was Sie jetzt tun sollen? Spielen Sie mit Ihren Kindern, trödeln sie herum, streicheln Sie Ihr Haustier, schauen Sie aus dem Fenster, drehen Sie die Musik auf, singen, tanzen, hüpfen Sie, lesen Sie ein Buch, oder auch nicht, kurz: Tun Sie, was Ihnen Ihr Bauchgefühl vorschlägt.

Ich werde das jetzt auch mal machen. Wenigstens für eine Stunde.