Essen. Durch Einstein wurde nicht nur ein Umbruch in der Physik ausgelöst, es begann auch die Zeit der Relativität. Das Leben, so wird klar, ist relativ.

Vor 100 Jahren trat ein ehemaliger Berner Patentamtsexperte II. Klasse vor die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin und hielt vier Vorträge, in denen er die Allgemeine Relativitätstheorie vorstellte. Sein Name war Albert Einstein, seine Theorie revolutionär und die Fachwelt reagierte zunächst... nun, sagen wir: relativ verhalten. Auf eine allgemeine Anerkennung seiner Gedankenexperimente und der daraus resultierenden Schlussfolgerungen musste Einstein noch ein paar Jährchen warten. Doch seitdem hat seine Beliebtheit die jedes anderen Physikers und Naturwissenschaftlers um ein Vielfaches übertroffen. Newton, Darwin, Galilei, alle liegen hinter ihm. Einstein wurde zum Popstar seines Fachs – und Relativität wurde zum Schlagwort für eine Epoche, die bis heute anhält.

Wir leben im Zeitalter der Relativität, man könnte sogar sagen: Einsteins Theorie hat nicht nur die Physik umgekrempelt, sie hat es uns auch in ganz alltäglicher Hinsicht leicht gemacht, alle Größen und Eigenschaften in Bezugssysteme zu setzen, sei es Länge, Entfernung, Zeit oder moralische Werte. Alles schön relativ, also? Ein paar Betrachtungen über die Welt von heute.

In 80 Tagen um die Welt...

Als im Jahre 1873 Jules Vernes im Roman seinen Müßiggänger und Gentleman Phileas Fogg auf eine „Reise um die Erde in 80 Tagen“ schickte, war das nicht nur relativ schnell, gemessen an den Fortbewegungsmitteln, die den Menschen damals zur Verfügung standen. Die halsbrecherische Tour mit Dampfschiff, Luftballon, Eisenbahn und Kutsche hätte ihn gleich mehrfach fast das Leben gekostet. Wenn heute hingegen jemand sagt, er wolle in 80 Tagen die Welt umrunden, würde man ihm neidvoll auf die Schulter klopfen, weil er sich ja relativ viel Zeit für dieses Vergnügen genommen hätte.

Erzwungene Perspektive: Die Hand wirkt relativ groß, der Wasserfall relativ klein.
Erzwungene Perspektive: Die Hand wirkt relativ groß, der Wasserfall relativ klein. © Getty Images

Unsere Bezugssysteme haben sich verändert, sie unterliegen einem steten Wandel, wie man nicht nur am Vergleich der Reisegeschwindigkeiten von anno dazumal erkennt. Einstein, das war die grundlegende Erkenntnis seiner Relativitätstheorie, stellte fest, dass Raum und Zeit gestaucht und gedehnt werden können – und es nur eine tatsächliche Konstante gibt, nämlich die Lichtgeschwindigkeit. Das ist es auch, worauf Bertrand Russel 1925 in „Das ABC der Relativitätstheorie“ Bezug nahm, als er schrieb: „Es gibt eine Sorte ungemein überlegener Menschen, die gern versichern, alles ist relativ. Das ist natürlich Unsinn, denn wenn alles relativ wäre, gäbe es nichts, wozu es relativ sein könnte.“

Nun sollte man meinen, dass es mehr als eine Konstante als die Lichtgeschwindigkeit gäbe. Zum Beispiel den Meter, der als Längenmaß zu den recht jungen und modernen Einheiten zählt, schließlich gibt es ihn erst seit 1793. Damals, mitten in den Wirren der Französischen Revolution, sollte er das heillose Wirrwarr der Maßeinheiten ein bisschen vereinfachen. Zu diesem Zweck wurden die Wissenschaftler Jean-Baptiste Joseph Delambre und Pierre-François-André Méchain entsandt, um den zehnmillionsten Teil des Erdmeridianquadranten zu vermessen, der die Distanz vom Pol zum Äquator beschreibt. Aus diesem Grunde sollten sie die Entfernung zwischen den Städten Dünkirchen und Barcelona ausmessen, den Rest konnte man anhand der bekannten Erdkrümmung ausrechnen. Die beiden maßen – wie soll man sagen? – relativ genau. Der erste Urmeter genannte Maßstab hatte eine Länge von 1000,325 Millimetern. Was, wenn man beide Augen zudrückt, ja ziemlich genau einem Meter entspricht. Weitere Versuche, einen Meter exakt zu definieren, zeitigten teils noch ungenauere Ergebnisse, jedoch gelang es im Laufe der Zeit, sich immer besser an eine unumstößliche Größe anzunähern. Seit 1983 gilt die Definition: „1 Meter ist jene Strecke, die das Licht im Vakuum in 1 / 299.792.458 Sekunden zurücklegt.“ Wobei der merkwürdige Bruchteil festgelegt wurde, um sich dem Urmeter anzupassen – und höhere Genauigkeit bezüglich des Abstands von Pol zu Äquator zu erzielen.

Die erzwungene Perspektive

Aber was ist nun groß, was ist klein? Auch hierauf lautet die Antwort wieder: Kommt darauf an. In der Fotografie kennt man das Phänomen der „erzwungenen Perspektive“. Wenn beispielsweise im Vordergrund eines Bildes eine Person zu sehen ist, die recht nah an der Kamera steht und deshalb sehr groß ist. Sie hält ihre Hand auf, als würde sie darauf etwas servieren. Wenn man nun in den Hintergrund, also sehr weit von der Kamera entfernt, eine zweite Person richtig positioniert, kann es so aussehen, als ob eine große Person eine winzige Person auf der Hand stehen hat. Absolut betrachtet könnte die Person im Vordergrund nur 1,20m groß sein, die im Hintergrund zwei Meter groß – es würde uns anders erscheinen.

Wenn man in der Schlange wartet, will die Zeit einfach nicht vorbeigehen. Ist man endlich dran, geht es an der Kasse viel zu schnell.
Wenn man in der Schlange wartet, will die Zeit einfach nicht vorbeigehen. Ist man endlich dran, geht es an der Kasse viel zu schnell. © WAZ

Dieses Phänomen hat sich wahrscheinlich jeder schon zunutze gemacht, der ein Gruppenfoto aufgenommen hat: Wer die Kleinen in den Vordergrund stellt und die Großen in den Hintergrund, wird nicht nur erreichen, dass die Köpfe der Großen die der Kleinen überragen, sondern zugleich bewirken, dass die Größenunterschiede perspektivisch geringer werden.

Auch bei der Zeit lassen sich perspektivische Verzerrungen feststellen, sobald man das persönliche Zeitempfinden betrachtet. Sogar Einstein selbst ging ironisch mit diesem Phänomen um: „Wenn man mit einem netten Mädchen zwei Stunden zusammen ist, hat man das Gefühl, es seien zwei Minuten; wenn man zwei Minuten auf einem heißen Ofen sitzt, hat man das Gefühl, es seien zwei Stunden. Das ist Relativität.“ Mit diesem Aphorismus hat er es immerhin in zahlreiche Bonmot-Sammlungen gebracht.

Aber woran liegt es, dass die Zeit so sehr vom Zustand des Betrachters abhängig zu sein scheint? Dass sie mal kriecht und mal fliegt, wie es schon im Sprichwort heißt. Das kann man sich vielleicht am besten von einer fiktiven Person erklären lassen, die Science-Fiction-Autor Douglas Adams erfand: Marvin, der depressive Android. Ihn hatte man sehr, sehr lange in einem galaktischen Parkhaus stehen lassen, was er auch kommentierte: „Die ersten zehn Millionen Jahre waren die schlimmsten, und die zweiten zehn Millionen Jahre, die waren auch die schlimmsten. Die dritten zehn Millionen Jahre haben mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Danach habe ich ein bisschen die Lust verloren.“

Gefühlt dauert es Millionen Jahre

Unser Zeitempfinden hängt von Frequenz und Wichtigkeit kurzer Eindrücke ab – so dass man es als besonders lang empfindet, wenn man im Einwohnermeldeamt warten muss, bis man an die Reihe kommt. Man hat ja nichts zu tun, als das Kommen und Gehen der anderen Wartenden zu beobachten – und das Hochzählen der Wartenummern. Gefühlt? Zehn Millionen Jahre.

Ähnlich verhält es sich im Supermarkt mit dem Gefühl, erst in einer extrem langsamen Schlange zu stehen. Dieser Eindruck wird durch die schon genannten Beobachtungen und das Nichtstun natürlich verstärkt. Und dann, plötzlich, könnte der Kontrast nicht größer sein: Die Kassiererin zieht die Waren mit einem Affenzahn über den Scanner, so dass man kaum mit dem Einpacken nachkommt. Auf einmal meint man, dass das alles viel zu schnell geht.

Unterschiedliche Maße sind weit verbreitet, sie werden auch in moralisch-ethischer Hinsicht angelegt. Nehmen wir die Bibel und hier den augenfälligsten Wertemaßstab: die zehn Gebote. Diese wurden nach der Schrift von Gott dem Phropheten Moses auf dem Berg Sinai übergeben, ohne Staffelung der Wertigkeit. Eigentlich sollten alle zehn Gebote also gleichwertig sein. Dass dies in heutiger Wahrnehmung alles andere als der Fall ist, wird klar, wenn man Gebot Nummer 3 („Du sollst den Tag des Herren heiligen.“) neben Gebot Nummer 5 stellt („Du sollst nicht töten.“) Während man an jedem verkaufsoffenen Sonntag die Massen freudig in die Innenstädte strömen sieht und kaum jemand noch daran Anstoß nimmt, dass die Geschäfte öffnen und dem Mammon gefrönt wird (siehe Gebot Nummer 1: „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“), würde ein Verstoß gegen das Tötungsverbot in Deutschland gewiss mit einer lebenslangen oder zumindest vieljährigen Freiheitsstrafe geahndet – vorausgesetzt, man lässt sich dabei erwischen.

Und was würde Einstein zu einer solchen Auslegung der Gebote sagen? Nun, er galt nicht als sonderlich religiös. Ihm wäre das alles vermutlich – relativ – egal.

Was Einstein mit der Relativitätstheorie aussagte 

Manchmal lohnt es sich, an den großen Fragen aus seiner Schulzeit einfach weiter zu arbeiten, bis man eine Lösung hat. Zumindest für Albert Einstein hat sich dies in vielfacher Hinsicht ausgezahlt. Denn schon als Schüler stellte er sich die Frage: Was sieht ein Beobachter, wenn er hinter einem Lichtstrahl herläuft? Mit welcher Geschwindigkeit soll er das tun? Mit halber Lichtgeschwindigkeit oder gar mit 99 oder gar 100 Prozent der Lichtgeschwindigkeit? Wäre es für den Beobachter dann nicht dunkel?

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Die Antwort: Egal, wie schnell man dem Lichtstrahl hinterher rennt, der Lichtstrahl bewegt sich trotzdem immer mit der gleichen Geschwindigkeit von einem weg. Wie aber sollte das funktionieren? Einstein ging davon aus, dass die Lichtgeschwindigkeit eine unveränderliche Konstante ist. Wenn man beim Hinterherlaufen aber Zeit und Raum überwindet – wobei die Lichtgeschwindigkeit konstant ist – mussten Zeit und Raum veränderlich sein. Im Falle des Hinterherlaufens hinter dem Lichtstrahl: Je schneller man dem Lichtstrahl hinterherläuft, desto langsamer vergeht die persönliche Zeit, sie wird gedehnt. Der Raum hingegen wird gestaucht.

Eine Vorstellung, die einiges an Abstraktionsvermögen erfordert. Doch damit hatte Einstein die „Spezielle Relativitätstheorie“ erfunden. Sie besagt: Dass die Lichtgeschwindigkeit nicht veränderlich ist und bei 299 792 458 Metern pro Sekunde liegt, müssen die anderen beeinflussenden Parameter, also Zeit und Raum veränderlich sein.

Dass diese Annahme tatsächlich stimmt, wies 1971 der Physiker Joseph Hafele nach, der sich mit einer Atomuhr auf Weltreise machte. Er jettete von Washington aus mit dem Flugzeug nach Osten und machte Zwischenstation in Frankfurt, Delhi, Hongkong und Honolulu. Wieder zu Hause angekommen, ging die weltgereiste Atomuhr genau 59 Milliardstel Sekunden nach im Vergleich zu jener Uhr, die im heimischen Labor geblieben war. Eine Winzigkeit mit großer Bedeutung. Die übrigens auch erklärt: Wäre ein Astronaut lange Zeit mit hoher Geschwindigkeit durchs All unterwegs, würde für ihn die Zeit langsamer vergehen als für uns auf der Erde. Das heißt: Wäre er lange und schnell genug unterwegs, käme er weniger stark gealtert zurück auf die Erde als alle, die zurückgeblieben sind. (s.u.)

Die Mathematik der gekrümmten Flächen

Viel schwieriger wird das Problem, wenn der Beobachter sich nicht mit einer konstanten Geschwindigkeit bewegt, man das Experiment also auf beliebige Beobachter ausweitet. Hierfür musste Einstein die Mathematik der gekrümmten Flächen anwenden, die er zunächst selbst nicht beherrschte, weshalb er zehn Jahre an der Lösung arbeitete und ein Modell der Krümmung von Zeit und Raum entwickelte, die Allgemeine Relativitätstheorie. Danach könnte man auf dem Papier die Zeit sogar so stark krümmen, dass sie in sich selbst zurückliefe – und so eine Zeitreise in die Vergangenheit denkbar wäre. Praktisch existiert eine Materie, die zu einer solchen Krümmung fähig wäre, aber nicht.

Warum die Zeit im Alter relativ schnell zu verstreichen scheint 

Je länger man lebt, desto schneller scheint das Leben zu vergehen. Auch dies ist ein Effekt, der uns vor Augen führt, dass Zeit etwas Relatives ist, jedoch hat dies nichts mit der Einsteinschen Dehnung und Stauchung der Zeit zu tun, sondern es gibt eine psychologische Erklärung dafür: den so genannten Reminiszenzeffekt.

Erinnern Sie sich eigentlich noch an Ihren ersten Kuss? An die sanfte Berührung der Lippen? Gar an das zaghafte Aufeinandertreffen der Zungen? Und wissen Sie noch, wie Sie sich dabei gefühlt haben?

Dann geht es Ihnen vermutlich wie der Mehrheit der Menschen. Und nun die Probe aufs Exempel: Erinnern Sie sich noch an Ihren, sagen wir, drittletzten Kuss? Also an ein Ereignis, das eventuell gar nicht so weit in der Vergangenheit liegt? Da wird es wohl schwierig, zumindest wenn es um die Details geht.

TDer erste Kuss, der erste gemeinsame Urlaub: Erinnerungen, die sich einprägen und die oft bis ins hohe Alter lebendig bleiben
TDer erste Kuss, der erste gemeinsame Urlaub: Erinnerungen, die sich einprägen und die oft bis ins hohe Alter lebendig bleiben © Getty Images

Der Grund dafür liegt darin, wie unser Gehirn mit Erinnerungen umgeht: Neue Eindrücke und Sinnesreize speichert das Gehirn besser ab als ihre Wiederholungen. Das Gehirn arbeitet also selektiv: Einmal gemachte Erfahrungen werden immer noch als besonders wertvoll behandelt, häufig wiederholte hingegen verschwinden in der Menge des bereits erlebten. Nun haben junge Menschen in ihrem Leben noch nicht so viele Erfahrungen gesammelt, weshalb eigentlich jeder Tag, jede Stunde ein „erstes Mal“ enthalten kann, das erinnernswert erscheint. Und diese ersten Male treten auch noch nicht in Konkurrenz zu anderen ersten Malen. Weshalb es älteren Menschen auch besonders leicht fällt, aus ihrer Jugend zu erzählen, während die Erinnerung an Ereignisse aus dem vergangenen Monat oft schon verschüttet sind.

Die vielen ersten Male in der Jugend

Wie dieser Effekt wirkt, lässt sich am besten am Beispiel eines Urlaubs an einem unbekannten Ort veranschaulichen: Am ersten Tag wird man praktisch überflutet von neuen Eindrücken, Wahrnehmungen, der Fremdartigkeit der Eindrücke. Und diese Flut von Sinneswahrnehmungen lässt den ersten Tag recht langsam vergehen – und lässt ihn in der Erinnerung als besonders intensiv erscheinen. Sobald sich aber die dritte Urlaubswoche am selben Ort dem Ende zuneigt, scheint die Zeit zu verfliegen. Der Psychologe William James schrieb: „In der Jugend machen wir zu jeder Stunde des Tages subjektiv oder objektiv eine neue Erfahrung. Die Erinnerungen dieser Zeit sind verwickelt, unzählig und ausführlich. Doch während die Jahre vergehen, verwandeln sich diese Erfahrungen in Routine, die wir kaum mehr bemerken. Die Tage und Wochen verflachen und die Jahre werden hohl und brechen in sich zusammen.“

Wie stark sich der Reminiszenzeffekt auswirkt, hängt aber auch von uns selbst ab. Die Zeit im Alter vergeht langsamer, je stärker man selbst geistig aktiv ist und offen für Neues – man könnte ja noch mal damit beginnen, Gitarre zu lernen.