Oberhausen. . Der Sound, der aus dem Netz kommt: Wie Streaming unsere Hörgewohnheiten verändert. Und warum der Datenstrom bald auch die digitalen Downloads abhängt.
Robert aus Oberhausen ist 35 Jahre alt und besitzt keine einzige CD mehr. Als neulich sein Freund Thomas ein paar Benno-Regale für CDs umzugsbedingt loswerden wollte, fragte er ironisch: „Was war das denn noch mal? Ein CD-Regal?“ Auch auf die zwei Festplatten, die randvoll gefüllt mit Musik sind, hat Robert schon seit ein paar Wochen nicht mehr geschaut. Warum denn auch? Die Medienbibliothek auf dem Computer muss man pflegen. Robert hat jemanden, der das automatisch für ihn übernimmt. Robert streamt seine Musik aus dem Netz.
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Die Musikindustrie steht vor dem nächsten großen Umbruch. Zwar kann man diesen Satz bereits seit fünfzehn Jahren immer mal wieder in die Runde werfen und hat niemals unrecht. Aber mit dem Aufkommen des Musikstreamings ist die absehbar letzte Stufe des Klangkonsums erreicht: Die Töne liegen dem Hörer heute oft nicht mehr auf Vinyl, Kassette oder Compact Disc vor, nicht einmal als Datei auf der heimischen Festplatte oder einem Stick, sie werden per Internet-Verbindung ins Haus gespült. Das ist fast wie beim Radio, nur dass die Hörer beim Streaming komplett selbst bestimmen, was sie gerade hören wollen.
Noch hinkt Deutschland der internationalen Entwicklung beim Streaming hinterher, gerade in Skandinavien und den USA ist es längst Teil des Alltags. Und es ist nur eine Frage weniger Jahre, bis die übliche Art, seine liebsten Sänger und Künstler zu konsumieren auch bei uns hauptsächlich von einer intakten Leitung ins Netz abhängt.
Vor ein paar Tagen gab Warner Music als erster der drei Marktbeherrscher bekannt, dass die Umsatzerlöse aus dem Geschäft mit Musik-Streaming jene überholt haben, die durch den Verkauf von Downloads erwirtschaftet wurden. Dabei kannibalisierte sich das digitale Geschäft selbst: Während das Streaming dem Konzern im vergangenen Jahr 25 Zusatz-Millionen Dollar einbrachte, brachen 22 Millionen Dollar bei den Herunterladern weg.
Aber wie sieht er aus, der normale Streamer? Was für ein Typ ist das? Und wichtiger: Wie viele davon gibt es überhaupt in Deutschland? Diese Frage ist für die gesamte tonverkaufende Branche von solcher Bedeutung, dass der Bundesverband Musikindustrie in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) eine umfangreiche Studie für den deutschen Streaming-Markt erstellt hat. Sie reicht zumindest, um ein Phantombild des durchschnittlichen Streamers zu erstellen. Der sieht ein wenig aus wie Robert, nur ein wenig jünger: 33 Jahre alt, männlich, Musikfan und -genießer.
Tatsächlich beträgt der Anteil der Frauen an der Nutzung von Streaming-Diensten nur ein Drittel. Und immerhin zwei Drittel der Streaming-Nutzer legen Wert auf eine angemessene Qualität der Sounds.
Insgesamt, rechneten die Konsumforscher hoch, gab es Ende 2014 in Deutschland 11,6 Millionen Streaming-Nutzer. Aber Vorsicht, das heißt nicht, dass auch all diese Nutzer für die Angebote zahlen. Im Gegenteil: Das beliebteste Modell sind die sogenannten „Freemium“-Modelle, das heißt, man hört die Musik kostenlos und nimmt dafür die regelmäßige Einblendung von Werbung in Kauf. Nur 2,5 Millionen Deutsche bezahlen auch für die werbefreien Premium-Angebote, fast drei Viertel von ihnen sind Männer. Man sollte ebenfalls nicht denken, dass die Zahl der 11,6 Millionen Nutzer mit der Zahl von Anmeldungen einhergeht. Die liegt deutlich darunter, weil viele der Zugänge mehrfach genutzt werden.
Eine weitere Zahl, die jede Plattenfirma schockieren könnte: Für die Hälfte der Befragten mit Online-Anschluss und Musik-Faible kommt Streaming erst mal nicht infrage. Was hält sie ab? Vor allem die Scheu, sich per Abo an einen Anbieter zu binden.
Ernsthafte Sorgen macht sich die Musikindustrie angesichts der Studie nicht, denn die Forscher haben ein wenig in die Zukunft geblickt. Bis 2018 soll sich die Zahl der Streamer fast verdoppeln, auf 22 Millionen. Mit weiteren 20 Millionen rechnet man bis 2024 – dann hinge halb Deutschland am Musikstrom.
Neue Hör- und Wohngewohnheiten
Das Streaming wird unsere Hör- und Wohngewohnheiten nachhaltig verändern. Abgesehen davon, dass wir heute gewaltige Musiksammlungen als Datei auf unserem Handy herumtragen und eine Streaming-App den Zugang zu mehr Alben ermöglicht, als selbst der riesigste Plattenladen fassen könnte, wird unser Heim durchs Netz übersichtlicher. Um das zu wissen, muss sich nur vor Augen führen, wie ein modernes, deutsches Wohnzimmer vor 30 Jahren aussah – und es heute aussieht.
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Damals war eine Raumecke mit Sicherheit von einem klotzigen Röhrenfernseher blockiert, darunter stand wahrscheinlich ein Videorekorder. Eine andere Ecke war gefüllt mit einem nicht weniger klobigen, meist schwarzen Hifi-Turm. Von den ganzen Materialien, VHS-Kassetten, CDs, Vinylplatten und Audiokassetten ganz zu schweigen, für deren Unterbringung man natürlich eigene Möbel wie eben jene Benno-Regale anschaffen musste. Und heute? Da geht es alles eleganter – vermutlich steht der Hifi-Verstärker gleich unter dem Fernseher, vernetzt mit Laptop oder Tablet zur Fernsteuerung. Und will man Musik in einem anderen Raum hören? Natürlich lassen sich per heimischem Netzwerk-Streaming drahtlos die Boxen in anderen Zimmern ansteuern.
Schöne neue Welt? Wie man’s nimmt: Natürlich bringen sich die, die sich für solch elegante Lösungen entscheiden, in eine immer stärkere Abhängigkeit von einer Technik, die sie meist selbst nicht beherrschen. Obwohl viele Netzwerk-Lösungen seit Jahren schon ein „Plug & Play“, also ein „Einstöpseln und Loslegen“, versprechen, geht es bei weitem nicht in allen Fällen so reibungslos. Und wer sich einmal für ein bestimmtes Hifi-System entscheidet, muss eben bei diesem bleiben, zu unterschiedlich sind die Lösungen, als dass man problemlos andere Komponenten einbauen könnte.
Apps als Musikberater
Andererseits haben viele der neuen Dienste unschätzbare Vorteile. Denn wer hat schon ständig seinen persönlichen Musikberater mit dabei? Diesen Job übernehmen Apps wie die von Spotify mit dem Menüpunkt „Entdecken“ bereits sehr gut: Basierend auf dem, was man sonst hört, schlagen sie vor, was außerdem den Nerv treffen könnte. Etwas ähnliches kennt man von Amazon, wenn einem Hörer von, sagen wir mal, Deichkind geraten wird, sich auch das neue Album von The Prodigy anzuhören. Tatsächlich kann man beim Blättern in solchen Empfehlungen gute Musik finden, die man bis jetzt immer verpasst hat.
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Selbst auf dem Klassikmarkt, der noch stark von der Liebe der anspruchsvollen Hörer zur CD lebt, tut sich etwas: Der französische Dienst Qobuz hat sich auf die Klassikfreunde eingestellt, im Sommer geht auch Idagio an den Start. Die Berliner Philharmoniker haben mit der „Digital Concert Hall“ gleich ihr eigenes Streaming-Angebot: Für 149 Euro im Jahr kann man live auf dem Rechner die Konzerte miterleben.
Gerade die Klassik-Klientel könnte für einen weiteren Schub sorgen, denn sie gilt, was den Klang einer Aufnahme angeht, als besonders anspruchsvoll. Die meisten Anbieter liefern bisher nicht die Klangqualität, die einer CD-Aufnahme ebenbürtig wäre. Noch. Auch hier ist klar: Es ist nur eine Frage der Bandbreite und der Nachfrage, bis die ersten Portale höhere Qualität liefern.
Nur 25 Prozent digitaler Umsatz
Die hohen Wachstumsraten des Marktes können nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Deutschland im vergangenen Jahr immer noch der Löwenanteil der Musikumsätze (75%) mit CDs und Vinyl erwirtschaftet wurde. Dennoch ist der Markt hart umkämpft, es drängen sich Spotify, Deezer, Pandora, Rdio, Juke, Rhapsody, Wimp und beinahe 60 weitere auf dem Markt. Der Kuchen ist nicht so groß, dass er alle satt macht. Anfang Mai etwa schloss der deutsche Wettbewerber Simfy seine Seite, weil er wohl Probleme mit den Lizenzverlängerungen durch die Plattenfirmen hatte. Der Markteintritt einiger nicht zu unterschätzender Marktteilnehmer könnte es noch enger machen: Amazon Prime Music ist in den USA schon gestartet, ebenso YouTube MusicKey.
Apple will den Markt umkrempeln
Die unmittelbarste Bedrohung für die jetzt am Markt etablierten Anbieter droht jedoch von der Firma mit dem angebissenen Fallobst im Logo: Im Juni will Apple auf seiner World Wide Developers Conference einen eigenen Streamingdienst anbieten, der wiederum auf Beats Music beruht – und bisher hauptsächlich durch Kopfhörer-Produktion von sich Reden machte. Das Apfelstreaming soll aber nicht kostenlos sein – und deshalb versucht Apple hinter den Kulissen, den großen Musikfirmen die kostenlosen Angebote auszureden. Wie der neue Dienst unter die Kunden kommt? Er wird in die neuen Betriebssystem-Aktualisierungen von Abermillionen Apple-Geräte eingebaut. So haben die potenziellen Kunden das Angebot automatisch auf ihrem Gerät.
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Damit trifft der Smartphone- und Computerriese die anderen Streaming-Anbieter an ihrer verletzlichsten Stelle. Denn bisher hat selbst der derzeitige Marktführer Spotify, der im vergangenen Jahr ein rasantes Umsatzwachstum von 45 Prozent auf 1,3 Milliarden Dollar hinlegte, auch seine Verluste vervielfacht: 197 Millionen Dollar Miese fuhr der schwedische Konzert im selben Zeitraum ein.
Bleibt noch eine letzte Frage: Was ist eigentlich mit den Künstlern? Denn ohne sie würde es keine neue Musik geben. Ohne sie wäre dem ganzen Markt seine Grundlage entzogen. Die Antwort darauf fällt ernüchternd aus: Um so viel zu verdienen, wie eine einzige verkaufte CD abwirft, muss das Album gut 1000 Mal gestreamt werden. Um also einen Künstler zu ernähren, müsste der Konsum über Streaming so gewaltig zunehmen, dass der Hörer gar nicht mehr aus dem Hören herauskäme. Und das, ja, das ist selbst für unseren eingangs erwähnten Robert noch die reine Zukunftsmusik.