Bochum. Der Bochumer Autohändler Tiemeyer investiert jährlich sechsstellige Beträge in Schulbildung der Azubis. Warum er eine Berufsschulreform fordert.

Regelmäßig vor Wahlen ist sich die Politik nahezu jeglicher Couleur einig: Deutschland investiert zu wenig in schulische Bildung. Das betrifft auch die duale Berufsausbildung, in Nordrhein-Westfalen also die Berufskollegs. Kaum sind die Stimmzettel in der Urne, scheint das Thema bessere Bildung auf der Prioritätenliste im Landes- und im Bundeskabinett sowie in den für die Gebäude zuständigen kommunalen Räten legislaturperiodisch einen Absturz zu erleben. Jedenfalls fällt die flächendeckend notwendige Bildungswende in der Praxis regelmäßig unter den Tisch.

Notenschnitt im Einserbereich

Die Tiemeyer-Gruppe aus Bochum gehört mit 32 Standorten zu den großen Autohändlern in Deutschland. 272 Auszubildende zählt das Unternehmen aktuell. Für die Azubis im kaufmännischen Bereich, knapp einhundert, investiert Tiemeyer­ pro Jahr weit mehr als 100.000 Euro pro Jahr in besondere Schulbildung. „Mich hat es geärgert, dass bei der Vergabe ,Stars der Ausbildung’ durch die Industrie- und Handelskammer immer nur Auszubildende der großen Industrieunternehmen wie Thyssenkrupp oder Opel dabei waren“, erklärt Firmenchef Heinz-Dieter Tiemeyer die Ursprungsmotivation, stärker in die Ausbildung im eigenen Unternehmen zu investieren.

Seit dem Schuljahr 2014/15 besuchen ganze Tiemeyer-Klassen das private Wirtschaftskolleg in Bochum, statt ein staatliches Berufskolleg. „Wir haben gesehen, dass bei entsprechender Unterstützung und Förderung das Potenzial der Auszubildenden deutlich besser ausgeschöpft werden kann, viele haben seitdem einen Einser-Abschluss“, sagt Tiemeyer, der sich in seiner Investition in den Nachwuchs bestätigt sieht.

Laura Theresa Dierna kennt beide Systeme. Die 19-Jährige absolviert bei Tiemeyer eine Ausbildung zur Autokauffrau und befindet sich im zweiten Lehrjahr. „Vorher habe ich mein Fachabitur an einem staatlichen Berufskolleg gemacht. Der Unterschied: Der Kontakt zu Lehrern und auch zu den Mitschülern war nicht so intensiv wie jetzt in einer kleinen Klasse. Wir sind momentan 16 Schülerinnen und Schüler.“

Die enge Betreuung schätzt auch Sakar Salji, der im vergangenen Jahr bei Tiemeyer am Standort Duisburg seine Ausbildung zum Autokaufmann begonnen hat. Sakar Salji ist vor acht Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen und hat nach dem Abitur an der Hochschule in Mülheim ein Studium der Mechatronik aufgenommen. „Ich habe zu Coronazeiten das Studium begonnen. In vier Semestern war ich vielleicht drei, vier Mal an der Hochschule. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr auf das Studium.“ Seit rund einem halben Jahr macht Salji eine gegenteilige Erfahrung: „Der Austausch mit den anderen Auszubildenden in der Tiemeyer-Welt gefällt mir. Durch den Klassenverband bin ich jetzt viel stärker mit meinen Kollegen vernetzt.“

3000 Bewerberinnen und Bewerber für 115 Lehrstellen

Heinz-Dieter Tiemeyer sieht sehr wohl, dass der Weg seines Unternehmens nicht für jeden, vor allem nicht für kleinere Betriebe möglich ist. „Wir brauchen eine Reform des Berufsschulwesens. Wer soll schließlich eine Klasse mit 36 Schülerinnen und Schülern unterrichten und dann auch noch auf Einzelne eingehen können?“ Tiemeyer sieht enormen Modernisierungsbedarf und glaubt, dass auch die Lehrerinnen und Lehrer dafür offen wären.

Darauf, dass irgendwann mehr Geld ins schulische System fließt, mag sich Tiemeyer aber nicht verlassen. Mehr als 1700 Beschäftigte arbeiten an den mittlerweile 32 Standorten des Unternehmens, davon eben knapp 300 Auszubildende. Kfz-Mechatroniker gehört immer noch zu den beliebtesten Berufswünschen junger Schulabgänger, auch die kaufmännische Ausbildung als Automobilkauffrau oder -kaufmann ist gefragt – jedenfalls beim Bochumer Autohändler. „2022 hatten wir für die 115 angebotenen Lehrstellen mehr als 3000 Bewerberinnen und Bewerber“, sagt Ausbildungsleiter Oliver Osmielak. Eine Lehrstelle im Unternehmen scheint also auch ohne besonderes Angebot attraktiv genug zu sein. Für Laura Theresa Dierna und Sakar Salji waren die „Tiemeyer-Klassen“ nicht der Grund für ihre Bewerbung. „Wusste ich nicht“, sagt Dierna. Allerdings profitieren die Azubis davon.

Unternehmer hat das Sauerland im Blick

„Wir würden gerne alle unsere Auszubildenden übernehmen, aber falls das nicht klappt, sollen sie wenigstens sagen können, dass sie etwas gelernt haben“, sagt Heinz-Dieter Tiemeyer, der nun prüfen lassen will, ob ein ähnliches Angebot auch dem Tiemeyer-Nachwuchs im ländlicheren Raum wie dem Sauerland mit den Standorten Plettenberg, Finnentrop und Hemer sowie dem Bergischen Land gemacht werden kann, wohin die Unternehmensgruppe mittlerweile expandierte.

Aus Sicht der Handwerkskammer Südwestfalen ist ein besonderes schulisches Angebot in der Region für Azubis rund um den Kfz-Handel eigentlich nicht nötig. Sieben Berufskollegs bieten Klassen für die Ausbildung an – von Menden und Lüdenscheid über Arnsberg und Olsberg bis Olpe-Altenhundem, Siegen und Bad Berleburg. „Ich sehe keinerlei Schwierigkeiten bei der Unterrichtung“, sagt Rüdiger Schnüttgen, Leiter des Ausbildungswesens bei der Handwerkskammer Südwestfalen. Die Kollegs seien auch technisch auf einem hervorragenden Stand. Nach wie vor sei eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker (früher Kfz-Mechaniker) bei den männlichen Bewerbern der Berufswunsch Nummer eins. In den Kreisen Olpe, Hochsauerland, dem Märkischen Kreis und Siegen-Wittgenstein sind allein bei der Handwerkskammer 949 Azubis registriert, die Kfz-Mechatroniker lernen – 911 männliche, 38 weiblich.

Im Kerngeschäftsfeld des Autohändlers Tiemeyer, dem Ruhrgebiet, ist das Verhältnis von angebotenen Ausbildungsplätzen zu potenziellen Bewerbern für Unternehmen im Vergleich zu Südwestfalen noch ziemlich passabel. Aber auch hier dreht sich der Markt zugunsten junger Leute. Umso wichtiger ist es, als Arbeitgeber attraktiv zu sein. „In Zeiten von Mitarbeiterknappheit sind Azubis der Rohstoff für die Unternehmen“, sagt Tiemeyer, der hier auch in Zukunft investieren will, statt auf eine Bildungswende zu warten.

Lehrerlücken in NRW

Laut Statistik des Landesschulministeriums gibt es 364 Berufskollegs in NRW, davon 111 privat geführte. 2021/22 besuchten 514.006 Schülerinnen und Schüler die Kollegs, an denen nicht nur Berufsschulunterricht gegeben wird, sondern auch Abschlüsse bis zum Abitur erworben werden.

Statistisch betrachtet ist die Personalausstattung vergleichsweise gut. Vom Soll mit 20.877,90 Stellen sind demnach 20.548,67 besetzt. Ein Minus von 329,23 Stellen. Zum Vergleich: Für Grundschulen weist die Statistik eine Lehrerlücke von 3437,05 bei 47.028,04 Sollstellen auf. Auch an Gymnasien, Gesamtschulen, Förderschulen und Realschulen ist die Lücke – und damit der Handlungsdruck – deutlich größer als an Berufsschulen. Ein Indiz dafür, dass sich an Kollegs kurzfristig wenig ändern dürfte.