Essen. Kassen sollen 17-Milliarden-Loch mit höheren Beiträge stopfen. BKK-Landeschef Janssen und Ulrich Grillo sagen im Podcast, was sie besser fänden.
Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) stehen vor einem 17-Milliarden-Loch – und warten darauf, dass die Bundesregierung etwas dagegen unternimmt. Einfach die Beiträge anzuheben, wie es Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angekündigt hat, ist Kassen wie Arbeitgebern zu fantasielos. Was sie sich von ihm wünschen, sagen der frühere BDI-Präsident Ulrich Grillo und und Dirk Janssen, Chef des BKK-Landesverbands Nordwest, in unserem Podcast „Die Wirtschaftsreporter“: Eine Senkung der Mehrwertsteuern auf Medikamente, volle Erstattung der Kosten für Langzeitarbeitslose – und vor allem Strukturreformen, etwa im Krankenhaussektor.
Lauterbach hat eine Anhebung des durchschnittlichen Zusatzbeitrags um 0,3 Prozentpunkte zum 1. Januar 2023 angekündigt. Um wie viel sie wirklich teurer wird, muss jede Kasse selbst entscheiden. Um das für 2023 hochgerechnete Defizit von 17 Milliarden Euro auszugleichen, plant der Minister in einem GKV-Finanzierungsgesetz noch höhere Steuerzuschüsse, ein Bundesdarlehen und einen „Solidarbeitrag“ der Pharmaindustrie, vor allem aber sollen die Kassen ihre Rücklagen zum Stopfen der Löcher verwenden.
BKK-Landeschef kritisiert „kurzatmige Politik“
Dirk Janssen, der für die Betriebskrankenkassen in NRW, Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern spricht, kritisiert das „Löcherstopfen“ der „kurzatmigen Politik“. Denn die Defizite kämen nicht überraschend: „Das ist eine Finanzkrise mit Ansage. Als die Wirtschaft bis 2019 gebrummt hat und die Sozialkassen voll waren, hat die Politik das Geld mit vollen Händen ausgegeben, ohne dass die Versicherten davon etwas hatten“ sagt der Landesvorsitzende. Dabei seien gleichzeitig die Kosten doppelt so stark gestiegen wie die Beitragseinnahmen.
In der Corona-Pandemie habe man dann erst recht „das Geld mit der Bazooka ausgeschüttet“, so Janssen, was nur altbekannte Defizite wie die Digitalisierungs-Rückständigkeit des Gesundheitssystems und den immer größer werdenden Fachkräftemangel in der Pflege offengelegt habe. Beispiel: „Da hat man Intensivbetten für eine halbe Milliarde Euro angeschafft und überrascht festgestellt, dass gar kein Personal dafür da ist“, die Betten auch belegen zu können, erzählt Janssen.
Grillo: Ampel hat 40-Prozent-Versprechen gebrochen
Janssen und Grillo, der die traditionsreichen Duisburger Grillo Werke führt, sind dagegen, vor allem die Beitragszahler zur Kasse zu bitten. „Es gab die Zusicherung der Regierungsparteien, die Sozialabgaben nicht über 40 Prozent steigen zu lassen, die überschreiten wir jetzt schon“, sagt der Zinkunternehmer Grillo. Die Beiträge für Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung dürften 2023 zusammen diese Marke reißen, da mindestens auch die Pflegeversicherung teurer wird. „Die Unternehmen stehen im internationalen Wettbewerb und werden wie die Bürger bereits stark durch hohe Energiekosten und Inflation belastet“, betont Grillo. Der Staat dürfe ihnen „nicht alles aufhalsen, irgendwo ist das Limit mal erreicht“.
Auch der Zugriff auf die Vermögen der Kassen sei keine Lösung: „Diese Reserven kann ich nur einmal verwenden, dann sind die weg und kein einziges Problem ist gelöst“, mahnt Grillo. Stattdessen fordert er langfristig wirkende Reformen. Kurzfristig helfen könnte etwa die Kostenübernahme für Hartz-IV-Empfänger durch den Bund. Die Jobcenter zahlen derzeit rund 100 Euro für Langzeitarbeitslose an die Kassen, laut Janssen liegen die Kosten aber dreimal höher. „Das subventionieren die Beitragszahler. Ein voller Ausgleich würde den Kassen zehn Milliarden Euro bringen“, rechnet Janssen vor. Und Grillo betont: „Das ist auch im Koalitionsvertrag so niedergeschrieben, nur redet da jetzt keiner mehr von.“
BKK-Forderung: Mehrwertsteuer auf Medikamente senken
Zusammen mit seiner zweiten Forderung sähe BKK-Manager Janssen das 17-Milliarden-Loch schon fast gestopft: „Wir sind neben Bulgarien und Dänemark mit das einzige Land in Europa, das auf Medikamente den vollen Mehrwertsteuersatz erhebt. Würde er auf den ermäßigten Satz von sieben Prozent gesenkt, würde das sechs Milliarden Euro sparen.“
Auch interessant
Den von Lauterbach geplanten Soli der Pharmaindustrie von einer Milliarde Euro, über den er mit der FDP streitet, hält der frühere Industriepräsident für falsch: „Wir haben viele forschende Pharmaunternehmen verloren und sind gerade dabei, sie zurückzugewinnen. Wenn diese Konzerne Gewinne machen, haben wir durch höhere Steuereinnahmen mehr gewonnen als mit einer Sonderabgabe.“ Janssen hält von dieser Einmalgeldspritze ebenfalls wenig, betont aber, wenn sie nicht komme, müssten Unternehmen und Versicherte entsprechend mehr zahlen.
Rezession ließe Beiträge noch stärker steigen
Der Gesundheits- und der Industrie-Manager befürchten zudem, dass es noch schlimmer kommen könnte. Beim 17-Milliarden-Loch nicht eingepreist seien eine mögliche Herbst-Pandemie und eine Rezession für den Fall, dass Russland seine Gaslieferungen einstellt. „Dann sehen wir Beitragserhöhungen um 0,5 bis 0,7 Prozent im kommenden Jahr“, sagt Janssen. In dieser Beitragslogik sieht Grillo einen Gegensatz: „Je tiefer wir in eine Rezession rutschen, umso stärker müssten die Beiträge steigen. Dabei könnten es Versicherte und Unternehmen immer weniger leisten.“
Dass der Chef der 1842 gegründeten Grillo-Werke sich so gut mit Krankenkassen-Finanzen auskennt, ist kein Zufall: Sein Unternehmen hatte bis Ende 2021 eine eigene Betriebskrankenkasse, die kleinste und älteste Deutschlands. Zu Jahresbeginn fusionierte die Grillo BKK mit der Bergischen BKK. „Das war schon eine emotionale Entscheidung, aber Emotionen können Sie sich im Geschäftsleben nur begrenzt erlauben. Eine kleine Kasse kann durch wenige größere Fälle völlig aus den Angeln gehoben werden, ist dann sofort defizitär“, erklärt Grillo. Der Zusammenschluss mit der Bergischen sei „eine gute Lösung“.
Grillo BKK war kleinste und älteste Kasse
Lauterbachs Gesetzentwurf werde durch die Vermögensabschöpfung den Konzentrationsdruck auf die Kassen weiter verschärfen, warnt BKK-Landesverbandschef Janssen. Das sei offenbar politisch auch so gewollt. Er halte es dagegen für besser, den Wettbewerb und damit den Versicherten die Wahlfreiheit zu erhalten. Denn: „Es sagt ja auch keiner, in deinem Ort gibt’s jetzt nur noch einen Bäcker, und die Brötchen haben dir zu schmecken.“