Essen. Unser Gesundheitssystem hinkt bei Digitalisierung hinterher, kritisiert BKK-Manager Janssen. E-Patientenakte könnte im Kampf gegen Covid helfen.

Die Betriebskrankenkassen im Westen und Norden der Republik befürchten eine Kostenlawine und deutlich steigende Beiträge ab dem kommenden Jahr. Das sagte Dirk Janssen, der designierte Chef des BKK Landesverbands Nordwest, im Gespräch mit unserer Zeitung. Janssen (52) löst am 1. Mai Manfred Puppel (65) ab. Er spricht für die Betriebskrankenkassen in NRW, Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern mit rund drei Millionen Versicherten.

Die Finanzlage der Kassen habe sich bis jetzt nicht so schlimm entwickelt wie zu Beginn der Pandemie befürchtet, so Janssen. Das liege auch daran, dass viele planbare Operationen und Behandlungen verschoben wurden und die Menschen insgesamt seltener zum Arzt gingen. Hinzu komme eine der wenigen guten Nebenwirkungen der Corona-Krise: „Durch bessere Hygiene und seltenere Kontakte sind die Infektionskrankheiten stark zurückgegangen. Ich hoffe, dass wir in Sachen Hygiene nachhaltig aus der Pandemie gelernt haben.“

„Das dicke Ende kommt spätestens 2022“

Aber: „Das dicke Ende kommt spätestens 2022.“ Dann rolle eine Kostenwelle auf die Kassen zu. Die werde voraussichtlich zu einem Anstieg des durchschnittlichen Zusatzbeitrags von 1,3 auf 2,3 Prozent führen, wenn die Steuerzuschüsse wegfallen, die bisher Corona-bedingte Kosten auffangen. Die Kostenwelle drohe zum einen, weil verschobene Behandlungen und OPs nachgeholt würden bzw. verschiedene Rettungsschirme der Bundesregierung erst mit Zeitversatz ihre finanzielle Wirkung entfalten. Zum anderen aber auch, weil das Aufschieben von Arztbesuchen den Gesundheitszustand vieler Menschen verschlimmert habe, so dass höhere Kosten durch umso aufwendigere Behandlungen entstünden. „Gerade Chroniker und psychisch Erkrankte haben aus Angst vor einer Ansteckung die Praxen gemieden. Das hat vielen nicht gut getan.“

Janssen sieht das deutsche Gesundheitswesen in einem entscheidenden Punkt weit im Rückstand. Auf die Frage, ob die Digitalisierung durch Corona überall einen Schub bekommen habe, nur nicht im Gesundheitswesen, antwortet er: „Das muss man leider so sagen. Es gibt eine riesige Kluft zwischen dem, was wir privat und beruflich an Fortschritt erleben, und der Entwicklung im Gesundheitswesen. Auf der einen Seite Google & Co, Videokonferenzen und Robotik. Auf der anderen ein Gesundheitssystem aus der Generation Telefonzelle und Lochkartensystem.“

Deutschland bei Digitalisierung im Gesundheitswesen Vorletzter

Dirk Janssen wird zum 1. Mai neuer Chef des BKK Landesverbands Nordwest, der die Interessen von Betriebskrankenkassen mit drei Millionen Versicherten vertritt.
Dirk Janssen wird zum 1. Mai neuer Chef des BKK Landesverbands Nordwest, der die Interessen von Betriebskrankenkassen mit drei Millionen Versicherten vertritt. © WP | Jens Helmecke

Im internationalen Vergleich lag Deutschland bei der jüngsten Bertelsmann-Studie zur Digitalisierung der Gesundheitssysteme unter 17 Ländern auf dem vorletzten Platz. Gute Ansätze gebe es auch in Deutschland, betont Janssen, etwa für Videosprechstunden in Pflegeheimen oder zur Nachbesprechung von Operationen. Doch im Praxisalltag fungiere der Patient immer noch als Bote für Papier, Arztbriefe, Röntgenbilder und Überweisungen zwischen Haus- und Facharzt, Klinik und Apotheke. Eine digitale Vernetzung finde bisher kaum statt, während etwa in Dänemark die Daten schon aus dem Krankenwagen in die Klinik übertragen werden, um Notfallpatienten besser behandeln zu können.

Dabei habe gerade die Corona-Pandemie gezeigt, wie wichtig digitale Anwendungen sind: Bisher rund 55 Millionen PCR-Tests in Deutschland seit Beginn der Pandemie wären ohne Digitalisierung nicht möglich gewesen. Andererseits hantierten die Gesundheitsämter in der Nachverfolgung von Ansteckungsketten mit Post-Bescheiden, Faxen und überlasteten Telefon-Hotlines. „Wo der Staat am Steuer sitzt, kriegen wir es nicht hin. Die Denke, bloß keine Fehler machen zu dürfen, auch weil es in Deutschland eine ausgeprägte Empörungskultur gibt, lähmt uns bei digitalen Lösungen wie der Corona-App“, meint Janssen.

Elektronische Gesundheitskarte „ein Desaster“

Als „Desaster“ bewertet der neue BKK-Landeschef die elektronische Gesundheitskarte. Von der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) 2003 mit großen Hoffnungen auf den Weg gebracht, ist bis heute nicht mehr als das Foto des Versicherten hinzugekommen. Janssen hofft, die Plastikkarte bald ganz einmotten zu können, er setzt voll auf die elektronische Patientenakte, auf die Ärzte ab 2022 alles speichern sollen, was der Patient dort haben möchte und über eine App abrufen kann. Etwa den Impfpass, das Bonusheft, Rezepte und Befunde. Natürlich sei die Datensicherheit enorm wichtig bei diesen sensiblen Daten. „Doch beim Onlinebanking geht das auch schon lange, warum also nicht im Gesundheitswesen?“

Die Freiwilligkeit, Daten zu speichern, sollte laut Janssen Grenzen haben. „Wir brauchen eine digitale Basis-Infrastruktur, die für alle gleich sein muss. Dazu gehört der Datenaustausch zwischen Arzt, Apotheke und Klinik. Was bisher auf Papier geschieht, muss digital werden“, fordert er. Zusatzfunktionen sollten freiwillig bleiben, entscheidend sei hier, dass der Nutzen die Menschen überzeugt. „Google Maps bezahle ich mit meinen Daten, weil der Nutzen überwiegt. Wenn ich meinen MRT-Befund, mein EKG und meine medizinische Vorgeschichte immer virtuell dabei habe, kann mir das im Ernstfall auch sehr helfen.“

Basisdaten für elektronische Akte sollten verpflichtend sein

Verpflichtend sollte es laut Janssen auch sein, seine Daten anonymisiert zu Forschungszwecken zur Verfügung zu stellen. Auch, um föderalen Wildwuchs künftig zu verhindern, der etwa 18 klinische Krebsregister statt eines hat entstehen lassen. „Was die eigene Gesundheit angeht, sollte jeder auch weiterhin die Freiheit haben, sich unvernünftig zu verhalten. Was aber der Effizienz des Gesundheitswesens und der medizinischen Weiterentwicklung dient, muss im Sinne der Solidarität mit den Kranken und den Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, verpflichtend sein.“

Unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) habe Deutschland bei der elektronischen Patientenakte „in den vergangenen zwei Jahren einen Riesen-Sprung gemacht“, so Janssen. Die im Herbst zu wählende neue Bundesregierung müsse sie nun so verfügbar machen, dass sie für jeden essenziell sei. In der Pandemie hätte sie viel Bürokratie vermeiden können, etwa die Prüfung, wer in der Apotheke eine FFP-3-Maske bekommt oder wer in welche Impf-Priorisierungsgruppe gehört. Oder schon geimpft ist. Stattdessen gibt es aktuell Ärger wegen gefälschter Impfpässe auf Papier.

Computer können Hautkrebs bald besser erkennen als der Arzt

„Die Digitalisierung wird sich so oder so im Gesundheitswesen durchsetzen, weil sie den Menschen hilft“, ist Janssen überzeugt. Diagnosen und Therapien könnten beschleunigt und verbessert, damit letztlich auch Kosten gespart werden. Künstliche Intelligenz könne schon bald Hautkrebs besser erkennen als das menschliche Auge. „Die jüngeren Generationen werden das nutzen, den älteren müssen wir dabei helfen.“ Die Frage für Deutschland sei nur, ob es der globalen Entwicklung weiter hinterher hinken oder endlich nach vorne kommen wolle.

Was Janssen ärgert ist, dass jede Gruppe im Gesundheitswesen die Digitalisierung nur mitgehen wolle, wenn diese zusätzlich bezahlt wird. So erhalten Ärzte, Kliniken und Apotheken für das Befüllen der elektronischen Gesundheitsakte nun Prämien. „Alle ächzen unter der Papier-Bürokratie. Doch jetzt, da wir das Papier abschaffen wollen, fordern sie eine Extravergütung dafür – das passt nicht zusammen.“