Hagen. Materialknappheit und hohe Preise bestimmen weiter die deutsche Wirtschaft. Weder Handwerk noch Industrie rechnen absehbar mit Besserung.
Die vierte oder fünfte Preiserhöhung für Fenster steht im November an. So genau weiß das Thomas Espeloer ad hoc gar nicht: „Es geht so schnell. Wir fangen jetzt damit an, Preisgleitklauseln in die Verträge aufzunehmen“, sagt der Chef des Wittener Metallbauunternehmens Espeloer.
Materialfluss bestimmt Bau-Tempo
Mit acht Beschäftigten fertigt sein Betrieb Fenster und Türen einer namhaften Marke an, die für besten Lieferservice bekannt ist. Momentan bestellt Espeloer alles, was zu bekommen und für Fensterbau zu gebrauchen ist. Zuletzt Silikon in großen Mengen, weil er den Tipp bekam, dass der Baustoff absolute Mangelware werden würde. Glück für ihn und sein Unternehmen. „Wir haben jetzt ein Organisationsverhalten wie zu DDR-Zeiten. Beängstigend.“ Sprich, das Handwerk steht im engen Austausch: Ich gebe dir Silikon, du gibst mir anderes Material.
In Zeiten des real existierenden Sozialismus wurde diese Art Mangelwirtschaft vom Westen immer bespöttelt. Plötzlich, oder besser mit dem Durcheinanderwirbeln der Wirtschaft in Pandemiezeiten, scheint sie in Gesamtdeutschland zur Realität zu gehören.
Die Engpässe „legen den kleinen und mittleren Unternehmen enorme Steine auf ihren Weg aus der Corona-Krise“, berichtete KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib.
Am stärksten belastet seien das verarbeitende Gewerbe und die Bauindustrie, aber auch Handel und Dienstleister seien betroffen. „Von Entspannung kann keine Rede sein“, bestätigt Berthold Schröder, Präsident der Handwerkskammer Dortmund. „Es sieht nicht so aus, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern werde. Angebot und Nachfrage sind nicht in Balance“, so Schröder. Kunden seien gut beraten, so früh wie möglich mit Handwerkern über anstehende Bauprojekte zu sprechen.
Angebot und Nachfrage bestimmen die Preise – und die kennen seit mehr als einem Jahr nur noch eine Richtung. Um 300 Prozent hatte sich der Preis für Holz, insbesondere Bauholz, seit Herbst 2020 nach oben bewegt. „Jetzt gibt er leicht nach, etwa um 25 Prozent“, sagt Berthold Schröder, Präsident der Handwerkskammer Dortmund und Inhaber eines Zimmerei- und Tischlereiunternehmens in Hamm. Auch Schröder beschreibt die aktuelle Mangellage mit einem kuriosen Beispiel. So gebe es gerade zwar Motoren für elektrische Rollläden, aber keine Schalter zu Steuerung. Wenn Perimeterdämmung zur Abdichtung von Gebäuden fehle, und sie fehlt derzeit häufig, gehe es auf Baustellen nicht weiter, weil die Baugruben nicht verfüllt werden könnten. „Ich hätte nicht gedacht, dass Material einmal so knapp werden könnte, dass es die Auftragslage bestimmt“, sagt Schröder. Bislang waren eher Engpässe beim Fachpersonal dafür verantwortlich, dass Kunden längere Wartezeiten in Kauf nehmen mussten.
Europa ist längst im Hintertreffen
Die verrückte Lage betrifft beinahe alle Wirtschaftszweige. Handwerk ebenso wie Dienstleistungen und nicht zuletzt die Industrie. Aus Sicht des Präsidenten der Industrie- und Handelskammern in NRW, dem Schwelmer Ralf Stoffels, hat dies nicht allein mit der Corona-Pandemie zu tun, sondern auch mit dem Handelskrieg zwischen China und den USA. Es geht hier darum, die Oberhand zu bekommen oder zu behalten. „Und die Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft sind dabei so etwas wie ein Kollateralschaden“, sagt Stoffels.
In dieser Aussage schwingt eine Menge Unbehagen bei dem Unternehmer und Vertreter der NRW-Wirtschaft mit. Europa ist demnach längst mehr leidgeplagter Zuschauer als Akteur. Dies müsse sich dringend ändern und erfordere eine andere Politik in Europa, fordert Stoffels: „Egal, welche Farbenlehre in den kommenden Jahren in Berlin gilt, die Wirtschaft muss mehr Gehör in der Politik finden. In Deutschland und in Europa.“ Ohne mehr Kooperation zwischen den europäischen Staaten und eine gemeinsame Handelspolitik, „werden wir hier zerrieben“, ist Stoffels Eindruck. In seinem Unternehmen, das Silikonschläuche für die Autobranche, aber auch für medizinische Geräte herstellt, werde die Produktion heruntergefahren. Erstmals in der Geschichte des Unternehmens habe man einen Auftrag gänzlich abgelehnt, wegen Materialmangels.
Dazu kommen extrem gestiegene Frachtpreise, die die Produkte teurer machten – und Staus vor Häfen wie Amsterdam oder Hamburg. „Corona hat die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht gebracht“, so IHK-Präsident Stoffels.
So viele Unternehmen haben Lieferprobleme
Nach einer Umfrage der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) unter 2400 kleineren und mittleren Unternehmen mit einem Umsatz von maximal 500 Millionen Euro jährlich kämpfen 48 Prozent der rund 3,8 Millionen Mittelständler mit den Folgen von Lieferproblemen. Jedes vierte Unternehmen sieht sich gezwungen, wegen gestiegener Kosten für Rohstoffe und Vorprodukte die Preise für seine eigenen Produkte anzupassen. Am häufigsten kommt es der Umfrage zufolge zu Preiserhöhungen in der Baubranche (61 Prozent).
Schwierigkeiten gibt es nicht nur bei Mikroprozessoren. Auch Stahl, Aluminium, Kupfer, andere Metalle, Kunststoffe und Verpackungsmaterialien sowie Holz für die Bau- und Möbelindustrie sind knapp. Viele Unternehmen hatten in der Corona-Krise ihre Kapazitäten zurückgefahren und können nicht so schnell auf die wieder anspringende Nachfrage reagieren.