Essen. Verdi und Arbeitgeber einig über Lohnplus für 700.000 Beschäftigte im NRW-Einzelhandel. Was die Gewerkschaft durchsetzen konnte – und was nicht.
Fünf Monate und sieben Verhandlungsrunden hat es gedauert, den auch für diese konfliktträchtige Branche ungewöhnlich harten Tarifstreit im nordrhein-westfälischen Einzelhandel beizulegen. Am Freitag einigten sich die Arbeitgeber und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi auf eine stufenweise Anhebung der Löhne und Gehälter für die rund 700.000 Beschäftigten in NRW. Der Tarifvertrag gilt für zwei Jahre.
Die aus Sicht der Arbeitnehmerseite wichtigste Errungenschaft ist zugleich die fetteste Kröte für die Arbeitgeber: Das Lohnplus gilt für alle Handelssegmente gleichermaßen. „Der erkämpfte Abschluss gilt für alle Beschäftigten des Einzelhandels, unabhängig davon, wo sie arbeiten“, betonte Verdi-Verhandlungsführerin Silke Zimmer und sprach von einem „großen Erfolg“.
Keine Tarifabweichung für Corona-Verlierer
Die Arbeitgeber hatten lange auf Sonderregelungen für die von den Zwangsschließungen in der Pandemie besonders betroffenen Branchen bestanden, allen voran den Textilhandel. Damit wollte der Handelsverband um ihre Existenz kämpfende Modeläden schützen. Verdi führte ins Feld, dass deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ebenfalls besonders betroffen gewesen seien – allein durch die Gehaltseinbußen während ihrer Kurzarbeit.
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In den Zahlen folgt NRW dem Pilotabschluss aus Hessen: Die Löhne und Gehälter für Beschäftigte bis zur Gehaltsgruppe Verkäuferin im letzten Berufsjahr (2.704 Euro Monatsbrutto in Vollzeit) steigen rückwirkend zum 1. September um drei Prozent. Für alle Beschäftigten in höheren Entgeltgruppen gibt es einen Festbetrag in Höhe von 81,12 Euro. Verdi versucht seit Jahren, in Branchen mit einem hohen Anteil niedriger Lohngruppen überdurchschnittliche Erhöhungen für die unteren Gruppen durchzusetzen. Im Mai 2022 folgt eine weitere Anhebung um 1,7 Prozent. Die Ausbildungsvergütungen steigen jeweils im September pauschal um 30 Euro.
Eine ungewöhnlich harte Tarifrunde
Tarifverhandlungen im Einzelhandel bleiben selten friedlich. Diesmal griffen die Funktionäre nach dem Pilotabschluss in Hessen sogar noch tiefer in die Kiste der Empörungsrhetorik, als es üblicherweise zwischen den Verhandlungsrunden geübtes Ritual ist. „Erpressung“ warf der Handelsverband HDE der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vor – nach der Einigung wohlgemerkt. Die Gewerkschaft habe die Arbeitgeber mit unverantwortlichen Streiks zu einem Tarifabschluss „gezwungen“, der die „Nicht-Lebensmittelhändler überfordert“, schimpfte HDE-Geschäftsführer Stefan Genth Ende September.
Festgefahrener Tarifstreit- Auch Aldi zieht Lohnerhöhung vor„Spaltungsversuche“ und ein „Lohndiktat des Arbeitgeberverbandes“ warf dagegen NRW-Verhandlungsführerin Zimmer dem HDE vor. Der hatte frühzeitig den Unternehmen empfohlen, freiwillig zwei Prozent mehr zu zahlen – nebst einer Corona-Prämie von 300 Euro. Der Aufforderung kamen einige große Ketten nach, allerdings nicht zufällig aus jenen Handelsbereichen, denen die Pandemie wenig bis gar nicht zusetzte. Lebensmittelhändler wie Aldi, Rewe, Penny und einige Edeka-Regionalgesellschaften gehörten sogar zu den Corona-Gewinnern, weil sie zum Beispiel deutlich mehr Textilwaren verkauften, während sich im geschlossenen Fachhandel statt der Kassen nur die Lager füllten.
Ikea, Otto, Aldi, Rewe und Co. zogen Lohnerhöhung vor
Auch Möbelhäuser wie Ikea und Versandriesen wie Otto und Baur hoben die Entgelte ihrer Beschäftigten bereits im Sommer freiwillig um zwei Prozent an. Sie betonten stets, das auf die ausstehende Tarifanhebung anrechnen zu wollen. Die meisten kündigten zudem an, die vom HDE für Vollzeitkräfte empfohlene Einmalzahlung als Corona-Prämie von 300 Euro zahlen zu wollen.
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Eine solche findet sich im Tarifabschluss nicht. Der Fokus der Gewerkschaft lag offenkundig darauf, dass die vereinbarten tarifwirksamen Erhöhungen für alle gelten und nicht etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Modeketten und Boutiquen sowie den ebenfalls hart getroffenen Schuhläden leer ausgehen. Das bedeutet allerdings auch, dass der nun ab September vereinbarten Tariferhöhung vier Nullmonate vorausgehen.
Erst vier Nullmonate, dann drei Prozent mehr
Auf zwölf Monate hochgerechnet, schrumpfen die drei Prozent im ersten Jahr auf durchschnittlich zwei Prozent, was nicht ausreicht, um die aktuell über vier Prozent liegende Inflation auszugleichen. Das dürften auch die 1,7 Prozent im zweiten Jahr dieses Tarifvertrags kaum schaffen. Verdi hatte zu Beginn dieser Tarifrunde 4,5 Prozent mehr für eine Laufzeit von zwölf Monaten gefordert. Die zwischenzeitlich von der Arbeitgeberseite angebotenen zwei Prozent bedeuteten bei der aktuellen Inflation „Reallohnverluste für die Beschäftigten“, hatte Verdi seinerzeit kritisiert.
Der Abschluss in NRW gilt für gut 500.000 sozialversicherungspflichtig und knapp 200.000 geringfügig Beschäftigten. „Es ist der Erfolg der Aktiven und Streikenden aus den Betrieben, dass wir diesen lang andauernden Tarifkonflikt im Einzelhandel nun endlich beenden konnten. Sie haben sich diesen Abschluss mit Mut und Ausdauer erkämpft und sind unbeeindruckt von Vorweganhebungen und anderen Spaltungsversuchen der Arbeitgeber geblieben“, erklärte Zimmer am Freitag nach der Einigung.
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Ihre Forderung, die Tariflöhne gemeinsam für allgemeinverbindlich erklären zu lassen, konnte die Gewerkschaft nicht durchsetzen. Sollen die ausgehandelten Löhne und Gehälter für alle Betriebe, also auch die nicht tariflich organisierten gelten, müssen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zusammen eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung beim Arbeitsministerium beantragen. Die Zustimmung, in diesem Falle des NRW-Arbeitsministers Karl-Josef Laumann (CDU) ist dann in der Regel reine Formsache. Doch die Arbeitgeber machten da nicht mit. Da nur noch etwa jedes fünfte Einzelhandelsunternehmen tarifgebunden ist, will Verdi dieses Thema aber weiterverfolgen.